150.000 Haushalte in Berlin sind
zahlungsunfähig. Wegen Mietschulden verlieren im Bezirk Reinickendorf
deshalb immer mehr Menschen ihre Wohnung.
Rainer Matthes* ist verzweifelt. In vier
Wochen muss er seine Wohnung räumen. Der Grund: Mietschulden. Nachdem er
aus Krankheitsgründen vor zwei Jahren seinen Arbeitsplatz verloren hatte
und seitdem er laufende Kredite kaum noch begleichen konnte, folgte immer
häufiger der Griff in die Mietenkasse. Inzwischen steht er bei seinem
Vermieter mit knapp 5000 DM in der Kreide. Der hat nun beim zuständigen
Amtsgericht die Zwangsräumung erwirkt. Denn das Hilfeersuchen hat das
zuständige Sozialamt Reinickendorf abgelehnt. Und dies, obwohl das
Bundessozialhilfegesetz zur Abwendung von Wohnungsverlusten die Übernahme
von Mietschulden ausdrücklich vorsieht. Doch das Schicksal von Rainer
Matthes ist kein Einzelfall.
Mietschuldenübernahmen rückläufig
So existiert nach Angaben der Arbeitsgruppe Berliner
Wohnungslosentagesstätten (AGBW) eine "interne
Arbeitsrichtlinie" von Bezirkssozialstadtrat Frank Balzer (CDU).
Danach soll im Gegensatz zu den Vorgaben des Berliner Senates, nach dem
als Kernziel "die Vermeidung von Wohnungsverlusten oberste Priorität
hat", die Tilgung von Mietschulden nur noch "in Ausnahmen"
erfolgen. Vor allem Familien werden zunehmend Opfer der
Verweigerungshaltung (siehe untenstehende Statistik). Um nicht automatisch
in die Rolle des Finanziers für Privatschulden gedrängt zu werden,
prüfe das Amt jeden Antrag genau, begründet Balzer seine harte Linie.
Zwar stellt der Gesetzgeber die Gewährung ins Ermessen der
Sozialbehörde, doch widerspricht das restriktive Vorgehen der gängigen
Praxis in anderen Bezirken. Insgesamt hat sich die Zahl der bewilligten
Anträge nach Angaben des Reinickendorfer Sozialamtes denn auch um rund
50% reduziert. "Damit betreibt der Stadtrat eine Politik der sozialen
Ausgrenzung", empört sich die Arbeitsgruppe der
Wohnungslosentagesstätten. Als Folge beklagen Projekte einen stetigen
Anstieg der Betroffenen. "Während Einrichtungen in anderen
Stadtteilen mangels Bedarf geschlossen werden sollen, sind die
Obdachlosenheime in Reinickendorf überfüllt", sagt AGBW-Sprecher
Karsten Krull. Und in der Tat: Während die Zahl der
Mietschuldenübernahmen rückläufig ist, haben sich nach Angaben der
Senatsverwaltung für Soziales im Bezirk Reinickendorf die Fälle der
gerichtlichen Mitteilungen über Zwangsräumungen nahezu verdoppelt.
Meldeten die Gerichte im Dritten Quartal 1999 noch 178
Räumungsanordnungen, waren es im Zweiten Quartal 2000 bereits 356.
Gleichzeitig ging die Quote über die vorbeugenden Hilfen zur Abwendung
von Wohnungsverlusten von nur 20 sogar noch auf 19 zurück. Demgegenüber
stieg die Zahl der in Obdachlosenasylen untergebrachten Menschen im
gleichen Zeitraum von 213 auf 306 Personen an. Betroffen sind vor allem
Paare mit Kindern. Für die Bezirkskasse bedeutet dies entgegen der ins
Feld geführten Mitteleinsparungen einen erheblichen Mehraufwand. Denn die
Wohnheimkosten liegen nicht nur weit höher als die anfallenden Mieten.
Auch beläuft sich die Verweildauer in Obdächern bei rund 40% der
Betroffenen laut Senatssozialverwaltung bis zu drei Jahre.
Unerwünschte Zahlen
Neben der Verweigerung von Mietkostenübernahmen fielen in den
zurückliegenden Monaten auch mehrere Obdachloseneinrichtungen dem
Rotstift zum Opfer. Während die Zuschüsse für die Soziale Wohnhilfe der
Arbeiterwohlfahrt um 30% zurückgefahren wurde, sind die Mittel für die
einzige in den Wintermonaten geöffnete Notübernachtung komplett
gestrichen worden. Als "skrupellos" bezeichnet die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Vorgehen des Sozialstadtrates. "Der
Umgang Balzers mit Obdachlosen und von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen
ist zynisch und dient nur dem Zweck der Vertreibung von sozialen
Problemfällen aus dem Bezirk", kritisiert Oliver Schruoffeneger,
Fraktionsvorsitzender der Bündnisgrünen im Bezirksparlament. "Dies
alles soll dazu dienen, Obdachlose in die Nachbarbezirke abzudrängen und
anschließend den Rückgang der Sozialhilfezahl in Reinickendorf als
Erfolg zu feiern", so Schruoffeneger.
Ob die durch Mietschulden von Wohnungsverlusten bedrohten Haushalte nun
nach der Wahl mehr Hoffnung auf Unterstützung schöpfen können, bleibt
abzuwarten. Immerhin besteht eine numerische Mehrheit gegen den
derzeitigen CDU-Bezirksbürgermeister Frank Balzer.
*) Name von der Redaktion geändert
Statistiken aus dem Bezirk
Reinickendorf:
Gerichtliche Mitteilungen über
Räumungsklagen
1. Quartal 1999 (91)
2. Quartal 1999 (142)
3. Quartal 1999 (178)
4. Quartal 1999 (212)
1. Quartal 2000 (263)
2. Quartal 2000 (356)
Vorbeugende Hilfen nach Paragraph 15a
BSHG bei drohendem Wohnungsverlust
1. Quartal 1999 (70)
2. Quartal 1999 (45)
3. Quartal 1999 (20)
4. Quartal 1999 (22)
1. Quartal 2000 (24)
2. Quartal 2000 (19)
Die Anzahl der Sozialhilfe
beziehenden Kinder und Jugendlichen von Alleinerziehenden:
1997: |
941 (0-7 Jahre) |
488 (8 -14 Jahre) |
196 (15 -18 Jahre) |
gesamt: 1625 |
1998: |
1031 (0-7 Jahre) |
515 (8-14 Jahre) |
178 (15-18 Jahre) |
gesamt: 2024 |
1999: |
1017 (0-7 Jahre) |
497 (8-14 Jahre) |
154 (15-18 Jahre) |
gesamt: 1668 |
Von Gerichtsvollziehern mitgeteilte Zwangsräumungen bei
Familien:
|
1997: 64 |
1998: 78 |
1999: 85 |
|
Die vom Sozialamt betreuten obdachlosen Kinder:
|
1997: 27 |
1998: 21 |
1999: 53 |
bis zum 30.6. 2000: 43 |
Christian Linde
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