Montag, 28. September 1998,
Silbersteinstraße 20 (*). Pünktlich um 10 Uhr versammeln sich vor dem
Hauseingang im Berliner Bezirk Neukölln der Verwalter des Hauses,
Mitarbeiter des Transportunternehmens Schadewald (*), ein Schlosser und
der Gerichtsvollzieher Ernst Neuhaus (*) zur Vollstreckung eines
Räumungstitels, den der Eigentümer wegen Mietschulden beim Amtsgericht
erwirkt hatte.
Seit vierzehn Tagen weiß Vera Urban (*) von dem
bevorstehenden Räumungstermin. Doch alles Klingeln, Pochen und Rufen ist
nutzlos. Die Tür bleibt verschlossen. Diese Situation ist für den
38jährigen Gerichtsvollzieher nicht neu. Deshalb hat er bei
Zwangsräumungen immer einen Schlosser dabei, der ihm Zutritt zu den
Wohnungen seiner Klienten verschafft. Einige wenige Handgriffe, und die
Anwesenden stehen im Eingangsbereich der Zwei-Zimmer-Wohnung. Obwohl er
seit mehr als zehn Jahren als Zwangsvollstrecker tätig ist, wundert sich
Ernst Neuhaus immer wieder, wie lautlos eine Räumung vonstatten geht.
»Da wird eine Tür aufgebrochen und mehrere Männer können das Inventar
aus der Wohnung in ein Auto laden, ohne daß auch nur ein Nachbar daran
Anstoß nimmt.« Fürchtet er Widerstand, fordert er Amtshilfe von der
Polizei. Doch heute scheint alles »ganz normal« zu verlaufen.
7. 000 Mark Mietschulden
»Hallo, ist hier jemand?« ruft der Vollzugsbeamte mit gedämpfter
Stimme in das am Ende des Ganges gelegene Zimmer. Keine Antwort. Daß die
Mieterin nicht in ihrer Wohnung anzutreffen ist, verwundert ihn nicht. Oft
suchen die Betroffenen geradezu fluchtartig das Weite, wenn sein Besuch
naht. »Manchmal liegt sogar eine aktuelle Tageszeitung auf dem Tisch,
wenn wir kommen«, berichtet Neuhaus. Bedächtig läuft der Mann den Flur
entlang. Unter wiederholtem Rufen wirft er einen prüfenden Blick in die
einzelnen Räume. Die Wohnung scheint seit Wochen verlassen zu sein.
Überall Papierberge, Wäschehaufen und offene Schranktüren. Die
brauchbaren Sachen sind offenbar noch rechtzeitig abgeholt worden.
Fast ein Jahr ist keine Mietzahlung mehr
auf dem Konto der Eigentümer eingegangen. Bei einer Warmmiete von 680 DM
pro Monat für 54 Quadratmeter hat die 28jährige Frau Mietschulden in
Höhe von über 7 000 Mark. Bemühungen, die Räumung noch abzuwenden, hat
die Arbeitslose nicht unternommen. Auch zum Prozeß vor dem Amtsgericht
war sie nicht erschienen. »Mehr als 300 Mark bringt das hier nicht ein«,
sagt Amtsmann Neuhaus. Nachdem er das Mobiliar in Augenschein genommen und
einige Fenster geöffnet hat, gibt er den Mitarbeitern des privaten
Umzugsunternehmens ein Zeichen.
Steigerung im Osten
Was die Möbelpacker in den vor ihnen liegenden Stunden zu bewältigen
haben, ist für sie reine Routine. Denn es vergeht kaum eine Woche, ohne
daß sie nicht in Neukölln mit einem Gerichtsvollzieher unterwegs sind.
Der Bezirk mit der größten Bevölkerungsdichte, den meisten Arbeitslosen
und dem größten Sozialamt in Europa liegt auch bei den Räumungen ganz
weit vorn. Mit seinen mindestens 20 000 überschuldeten Haushalten nimmt
er berlinweit auch bei den fristlosen Wohnungskündigungen - über 1 000
allein im vierten Quartal 1997 - die Spitzenposition ein.
In der ganzen Stadt klingeln
Gerichtsvollzieher immer häufiger an Wohnungstüren, um eine
Zwangsräumung zu vollstrecken. Nach den neuesten vorliegenden Zahlen sind
in Berlin im vierten Quartal 1997 von den 2 742 gerichtlichen Mitteilungen
über Räumungsklagen 1 399 Räumungen von den Gerichtsvollziehern
gegenüber der Senatssozialverwaltung gemeldet worden - gegenüber dem
Vorjahr eine Steigerung um rund 15 Prozent. Doch während die Zahlen im
Westen stagnieren, ist im Ostteil der Stadt ein sprunghafter Anstieg zu
verzeichnen. Ursache für die Räumungen sind fast ausschließlich
Mietschulden. Claus Wedemeier, Sprecher des Verbandes der
Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU), von denen rund die
Hälfte der 2,8 Millionen Wohnungen in der Region verwaltet werden,
beziffert die Höhe der Mietschulden allein in Berlin gegenüber BBU-
Verbandsmitgliedern auf 212 Millionen Mark. Hartmann Vetter,
Hauptgeschäftsführer des Berliner Mietervereins, hält sogar eine
Gesamtmietschuldensumme von einer halben Milliarde Mark für
»realistisch«. Daß immer mehr Menschen in die Schuldenfalle tappen,
begründet Heribert Newrzella von der Schuldnerberatungsstelle Julateg mit
der steigenden Arbeitslosigkeit. »Die Primärverschuldungen, das heißt
Miet- und Energieschulden, sind nach unserer Erfahrung eigentlich nur
Seismographen für weitere Verschuldung.« Dem voraus gehen häufig
laufende Bankkredite und Ratenvereinbarungen, die nach einem
Arbeitsplatzverlust nicht mehr zurückgezahlt werden können.
Die Zahl der überschuldeten Haushalte in
Berlin beläuft sich nach Schätzungen von Experten auf mindestens 150
000. Bundesweit schätzt das Statistische Bundesamt die Zahl auf 2,1
Millionen. Anstatt die Scheu vor dem Weg in eine Beratungsstelle
abzulegen, geben die meisten Schuldner dem massiven Druck von
Inkassofirmen nach, so Newrzella. »Immer häufiger werden Rechnungen, vor
allem an Versandhäuser, aus der Mietenkasse beglichen, und nach einigen
Monaten flattert die fristlose Kündigung vom Vermieter ins Haus«,
beschreibt der Experte den klassischen Weg, an dessen Ende immer öfter
die Räumung steht.
Hilfe bei einem drohenden Wohnungsverlust
bieten die bezirklichen Sozialämter an. So kann das Sozialamt laut
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einmalig Mietschulden übernehmen, wenn der
Mietpreis und die Wohnungsgröße in einem angemessenen Verhältnis zur
Größe des Haushaltes stehen. Die Summe der übernommenen Mietschulden
belief sich 1996 auf über 20 Millionen Mark. Tendenz weiter steigend.
Seit Jahren wird regelmäßig das Jugendamt informiert, wenn von einer
Zwangsräumung auch Kinder und Jugendliche betroffen sind, um die nach
einer Räumung eventuell entstehenden weiteren Kosten für
Heimunterbringungen der Kinder zu vermeiden. Da durch dann meist
langfristige Heimunterbringungen schnell ein Vielfaches an Kosten für die
öffentliche Hand auflaufen kann, versuchen die Jugendämter in einigen
Fällen, die Zwangsräumung zu verhindern.
Post bleibt ungeöffnet
Einer wirksamen Hilfe stehen aber auch nichtsteuerbare Faktoren
gegenüber. So sind die Möglichkeiten, Einfluß auf den Verlauf eines
Räumungsverfahrens zu nehmen, gleich Null, wenn die Betroffenen nicht auf
das Angebot des Sozialamtes reagieren. Dies ist häufig der Fall, denn
drohende Wohnungsverluste gehen immer einher mit anderen sozialen
Problemen. Ob Arbeitsplatzverlust, ausbleibende Unterhaltszahlungen,
Mieterhöhungen, Beziehungskrisen, Partnerschaftsauflösungen, Probleme
mit den Kindern, Krankheit oder Alkoholprobleme: Irgendwann fühlen sich
die Menschen völlig überfordert. Erst werden Mahnungen nicht
beantwortet, dann die Post nicht mehr geöffnet und am Ende praktisch der
Kontakt zur Außenwelt abgebrochen.
»Die Leute machen einfach dicht. Es ist
dann schwer, noch etwas zu retten«, weiß Regine Rochlitz, Leiterin der
Sozialen Wohnhilfe in Schöneberg. Darüber hinaus beklagen
Beratungsstellen in den Ostbezirken die nach wie vor mangelnden Kenntnisse
über die Rechtslage. So wird der Umstand, daß man seine Wohnung
tatsächlich verlieren kann, noch immer weitestgehend unterschätzt. Zwar
droht den meisten Zwangsgeräumten nicht automatisch die Obdachlosigkeit,
doch der Weg in eigene vier Wände kann nach einem Wohnungsverlust sehr
lang werden.
Nach Angaben von Michael Haberkorn,
sozialpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im
Berliner Abgeordnetenhaus, lebt von den derzeit offiziell registrierten 8
950 Obdachlosen in der Stadt - die Dunkelziffer liegt nach Schätzung der
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) in Bielefeld bei
mindestens 40 000 - mehr als ein Drittel länger als zwei Jahre ohne ein
eigenes Dach über dem Kopf. Zwar können die Bezirke Familien über das
geschützte Marktsegment zu einer neuen Wohnung verhelfen, doch erweist
sich die Wohnungssuche für alleinstehende Männer - sie bilden das Gros
der Wohnungslosen - als schwierig, zumal die momentane Entspannung auf dem
Wohnungsmarkt das untere Preissegment nicht einschließt. Ein
Vertragsabschluß scheitert in vielen Fällen auch daran, daß das
Sozialamt die vom Vermieter geforderte Einzelfallbetreuung aus
Kostengründen ablehnt. Ist es dann nicht möglich, bei Verwandten
unterzukommen, endet die Suche nach einer Wohnung in einer städtischen
Einrichtung oder immer öfter auf einem der 6 000 Betten in den Berliner
Obdachlosenasylen.
Dort sind die Betroffenen ihrem Schicksal
überlassen. Mangels sozialer Betreuung verlassen sie diese Unterkunft
nicht selten freiwillig - mit dem Risiko endgültig ohne Obdach in der
Hauptstadt der Obdachlosen zu sein.
Eigentum auf der Müllkippe
Um Wohnungsverluste und Langzeitobdachlosigkeit wirksam bekämpfen zu
können, liegt die zentrale Aufgabe nach Ansicht von Regine Rochlitz in
der Prävention. Aufklärung, Beratung und vor allem eine enge
Zusammenarbeit mit den Hauseigentümern sei in allen Bezirken dringend
erforderlich. »Unsere guten Kontakte zur Wohnungswirtschaft haben schon
oft dazu geführt, daß wir in Schöneberg Menschen, die praktisch bereits
auf der Straße standen, vor der Unterbringung in einer Läusepension
bewahren konnten.«
Wo Vera Urban aus der Neuköllner
Silbersteinstraße Unterschlupf gefunden hat, weiß Gerichtsvollzieher
Ernst Neuhaus nicht. Für drei Monate ist ihr Hab und Gut in einem der an
die zwölf Berliner Amtsgerichte angegliederten zentralen Pfandlokale
eingelagert. Löst die Frau ihr Eigentum in dieser Zeit nicht ein, wird es
zwangsversteigert oder landet auf der Müllkippe. Doch erfahrungsgemäß
hören nach Verhängung eines Räumungstitels weder das Gericht noch der
Gläubiger noch einmal etwas von ihren Schuldnern. »Zwangsgeräumte
bleiben zumeist wie vom Erdboden verschwunden«, sagt Ernst Neuhaus.
Christian Linde
(*) Namen und Orte von der Redaktion
geändert
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