Bei rund vier Millionen Arbeitslosen
und einer Zahl von drei Millionen Sozialhilfebeziehern gehört der Anblick
von Armut auf den Straßen inzwischen ebenso zum Alltag einer Großstadt,
wie der zunehmende Stau im Straßenverkehr. Doch je weiter die Schere
zwischen Arm und Reich auseinanderklafft, um so rigider werden die
Maßnahmen staatlicher Institutionen gegen deren Erscheinungsformen. In
deutschen Großstädten ziehen Allianzen aus Geschäftsleuten und
städtischen Behörden einen Ring um marginale Gruppen.
Ob in Einkaufspassagen,
Fußgängerzonen oder auf Plätzen, öffentliche und private
Sicherheitsdienste richten ihr Augenmerk immer häufiger auf Menschen, die
ihrer optischen Erscheinung nach nicht ins Bild passen. Dazu gehören vor
allem Obdachlose, Prostituierte und Straßenkinder. Klaus Ronneberger vom
Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main beobachtet: »Seit
Anfang der neunziger Jahre entfaltet sich in den Metropolen ein
Repressionsprogramm, das sich in erster Linie gegen die Anwesenheit
marginaler Gruppen an zentralen Orten und Plätzen richtet. Die
Absicherung exklusiver Räume erfolgt durch Überwachungs- und
Kontrollprozeduren, deren Ziel darin besteht, die wachsende Fragmentierung
der Gesellschaft territorial zu fixieren und segregierte Orte
herzustellen, die sich durch eine jeweils spezifische soziale Homogenität
auszeichnen sollen.«
Konfrontation mit Armut
Bei dieser Neuordnung der öffentlichen Räume spielt die
Eisenbahnimmobilien Management GmbH der Deutschen Bahn AG eine zentrale
Rolle. Mit geschätzten 150000 Hektar Grundfläche im Wert von etwa 13,4
Milliarden Mark in überwiegend zentralen Lagen, die profitabel vermarktet
werden sollen, ist sie der größte Immobilienbesitzer in Deutschland.
Damit geraten auch die Bahnhöfe, die traditionell zu den bevorzugten
Rückzugsräumen für ausgegrenzte Gruppen gehören, ins Fadenkreuz der
Kontrollstrategien.
Vor allem Bettler sind immer öfter Opfer
staatlicher und privater Repression. Und dies, obwohl nach dem
Inkrafttreten des 2.Strafrechtsreformgesetzes am 21. April 1974 der
Gesetzgeber das Erlöschen der Strafbarkeit des in jeder Form ausgeübten
Bettelns verfügt hatte. Jedoch hat sich der Umgang mit dieser Gruppe der
Armutsbevölkerung, nachdem in den vergangenen Jahren eine Tendenz
feststellbar war, über kommunale Verbotssatzungen lediglich das
»aggressive Betteln« zu verbieten, Zug um Zug verschärft. Die generelle
Vertreibung von Bettlern ist längst an der Tagesordnung. Und dies, obwohl
selbst im Gesetz zwischen verschiedenen Formen des Bettelns unterschieden
wird. Erstens: das »stille«, das heißt, das sogenannte passive Betteln,
das gekennzeichnet ist dadurch, daß der Bettelnde sich in keiner Weise
auf Passanten zubewegt und auch nicht zielgerichtet jemanden anspricht
oder berührt, während er auf einer öffentlichen Straße sitzend oder
stehend mit eindeutiger Geste um eine Spende bittet. Zweitens: Das
sogenannte verdeckte, passive Betteln, bei dem Passanten direkt und
unmittelbar angesprochen werden. Drittens: Das »offene aktive Betteln«,
bei dem sich der Bettelnde direkt auf den Passanten zubewegt. Und -
schließlich - viertens: Das »aggressive Betteln«, bei dem auf »eine
milde Gabe« unter Hinweis auf eine bestehende Bedürftigkeit Passanten
angesprochen werden und ihnen bei Nichtbeachtung der Weg versperrt wird.
Hierzu hat sich in den vergangenen Jahren
auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur die einhellige Auffassung
durchgesetzt, daß lediglich das »aggressive Betteln« als rechtswidrig
zu bewerten ist, das heißt, nur wenn Passanten sich nicht mehr
ungehindert auf öffentlichen Straßen und Plätzen fortbewegen können,
liegt ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor.
Demgegenüber handelt es sich beim
sogenannten »stillen Betteln« um ein Verhalten, das prinzipiell ohne
jede polizeiliche Relevanz sei. Zum Ausdruck kommt diese Auffassung in
einem Rechtsgutachten, das Wolfgang Hecker, Professor an der
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Wiesbaden, »Zur Regelung
des Aufenthalts von Personen im innerstädtischen Raum« vorgelegt hat.
Darin heißt es: »In der allgemeinen Öffentlichkeit, vor allem im
innerstädtischen Bereich, besteht kein Schutz aus dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht vor dem Kontakt und der Ansprache durch andere.
Vielmehr gehört ein solcher Kontakt und auch die Ansprache durch andere,
die Konfrontation mit Mißständen wie Armut, zu den typischen
Rahmenbedingungen des innerstädtischen Raums. Daß dabei für Passanten
im Einzelfall auch subjektiv unerwünschte oder gar im Einzelfall lästige
Ansprachen erfolgen, begründet noch keine Berührung des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts.« Damit widerspricht Hecker dem immer
repressiveren Umgang mit Bettlern.
»Unwirtlichkeit der Stadt«
Die Liste für die massive Vertreibungspraxis in deutschen
Großstädten wird jedoch immer länger: In Berlin existieren im Rahmen
des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) bereits 24
»gefährliche Orte«, an denen wesentliche Persönlichkeitsrechte außer
Kraft gesetzt sind, bis hin zu »verdachtsunabhängigen«
Personenkontrollen und Leibesvisitationen. Mit der von Bausenator Jürgen
Klemann (CDU) vorgelegten Neuregelung über die »Sondernutzung von
öffentlichem Straßenland« will dieser die Polizei ermutigen, in den
Innenstadtbereichen verstärkt gegen »Penner« vorzugehen, die sich »die
Hucke vollsaufen«. Im vergangenen Jahr wurden in Berlin 224000
Platzverweise ausgesprochen.
Die Frage »Haste mal ne Mark?« kann auch
in Erfurt teuer werden. Seit 1995 wird sie von den Behörden nicht nur auf
Straßen, sondern auch vor Friedhöfen und in Freibädern als aktives
Betteln eingestuft und mit einer Geldstrafe belegt. In Köln erhalten
Bettler einen Bußgeldbescheid über 75 Mark. Zusätzlich wird das
erbettelte Geld beschlagnahmt. Wer sich in Mannheim »außerhalb von
Freischankflächen« wie Biergärten und Kneipen niederläßt und
berauscht, riskiert laut Polizeiverordnung eine Strafe von bis zu 1000
Mark. Das gleiche gilt für öffentlich einsehbare und frei zugängliche
Haus- und Grundstückseingänge.
Ebenfalls geahndet wird das »unbefugte
Nächtigen« auf Straßen, in Tunneln oder in Parks und das
»aufdringliche und bedrängende Betteln«. In dem Hamburger
Senatsdrucksachenentwurf »Maßnahmen gegen die Unwirtlichkeit der Stadt«
geht es um die Beseitigung der sichtbaren Erscheinungsformen von
städtischer Armut und die Verhinderung von »Konzentration und
Verfestigung« sogenannter Randgruppen und das »Sauberhalten
repräsentativer Räume und Visitenkarten der Stadt«. Allein im Stadtteil
St. Georg, einem Treffpunkt der Junkie-Szene, sprach die Polizei im
vergangenen Jahr rund 80000 Platzverweise aus.
In Osnabrück reicht den Ordnungshütern
der bloße Verdacht. Danach ermöglicht es eine Gesetzesänderung vom
vergangenen März, wenn die »Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß
eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen
wird«, um zur »Abwehr einer Gefahr« einen vorläufigen Platzverweis
auszusprechen. In der Mainmetropole beabsichtigt der Frankfurter Magistrat
einen weitgehend »streßfreien« Aufenthalt in der City zu
gewährleisten, der durch eine geplante »Gefahrenabwehrverordnung« eine
»Belästigung« der Bürger durch »rauschbedingtes Verhalten« und
»aggressives Betteln« mit Hilfe von Platzverboten vermeiden soll. Aus
einer von der Deutschen Presseagentur (dpa) 1996 durchgeführten Umfrage
unter deutschen Großstädten, fiel vor allem die Landeshauptstadt
Stuttgart durch ein dort angewandtes, »besonders rigides« Verhalten
gegenüber Bettlern auf. Dabei stützen sich die Ordnungshüter bei der
Durchsetzung einer »attraktiven Öffentlichkeit«, wie es in den
Werbebroschüren der Bahn AG heißt, ebenfalls auf kommunale
Verbotssatzungen. So war in Stuttgart ein mittelloser Kriegsversehrter
wegen des wiederholten Verstoßes gegen Paragraph 21 Ziff. 2 der
»Polizeiverordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung auf und an öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen«
mit einer Geldbuße von 100 Mark belegt worden. Der Fall hatte bundesweit
für Aufsehen gesorgt, denn der Mann wehrte sich und zog vor den Kadi. Das
Gericht bezeichnete es in seiner Urteilsbegründung als nicht
nachvollziehbar, »daß das einfache, unaufdringliche, körperlose Betteln
und damit das bloße Erbitten einer materiellen Zuwendung durch das
ausdrückliche oder konkludente Behaupten, bedürftig zu sein, sich zu
einem polizeirechtlichen Schaden verdichten oder auch nur die Grenze zur
persönlichen Belästigung überschreiten könne« und gab dem Mann Recht.
In der Begründung seitens der Strafverfolgungsbehörden dagegen hieß es:
Die Klärung der in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Frage der
Rechtmäßigkeit eines entsprechend weitgehenden Bettelverbotes sei »für
künftige Fälle dieser Art von erheblicher Bedeutung.« Demzufolge
akzeptierte die Landeshauptstadt das Urteil nicht und beantragte beim
Oberlandesgericht Stuttgart die Aufhebung des Urteils. Im Juli sprach das
Gericht den Mann frei. Der vor den höchsten Instanzen verhandelte
»Bettlerprozeß« dokumentiert die überall verstärkt »von der
öffentlichen Hand eingenommene Haltung, Maßnahmen des Polizei- und
Ordnungsrechts zur Behebung sozialer Probleme anzuwenden«, bilanziert
Manfred Hammel vom Stuttgarter Caritasverband. Die hartnäckige Haltung
der baden-württembergischen Landeshauptstadt kommt nicht von ungefähr.
Der Kurs auf Bundes- und Landesebene war nach der vom ehemaligen
Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) im Februar dieses Jahres mit den
Länderinnenministern und -senatoren beschlossenen »Aktion
Sicherheitsnetz« abgesteckt: die konsequente Säuberung der
Innenstadtbereiche. Durch die »Zusammenarbeit mit privaten
Sicherheitsunternehmen durch Polizei und Ordnungsämter und die Schaffung
freiwilliger Polizeihelfer« soll die »entschlossene Verteidigung der
öffentlichen Ordnung gegen Rüpelszenen, öffentlichen Alkoholgenuß,
aggressives Betteln und öffentliche Rauschgiftszenen« erreicht werden,
so Kanther.
Autoritäres Jahrhundert?
Dieser Strategie liegt nach den Worten von Udo Behrens von der
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln die Wiederbelebung
des Begriffs der öffentlichen Ordnung zur Durchsetzung außerrechtlicher
Sozialnormen zugrunde. »Es geht in Wahrheit nicht um Gefahrenabwehr und
Kriminalitätskontrolle, sondern um die symbolische Inszenierung sicherer
Innenstädte«, so Behrens. »Die Polizei wird dabei dazu benutzt, die
immer deutlicher zu Tage tretende Kluft zwischen Arm und Reich,
insbesondere die Symptome sozialer Verelendung zu kaschieren, indem mit
ihrer Hilfe die Optik der Bahnhöfe und Fußgängerzonen
'einkaufsbummelfreundlich' von Randgruppen gesäubert wird.« Neben der
permanenten Beschwörung des »Sicherheitsgefühls« wird der diffuse
Begriff der öffentlichen Ordnung aus der Zeit des preußischen
Obrigkeitsstaates mit medienwirksamen Stichworten wie
Broken-Windows-Theorie und Zero-Tolerance-Strategie aus der
inneramerikanischen Sicherheitsdebatte verbunden. Dabei werden die
Begriffe »öffentliche Sicherheit« und »öffentliche Ordnung«
miteinander vermischt. Selbst in amtlichen Verlautbarungen wird inzwischen
kaum noch deutlich, ob der Begriff der »öffentlichen Ordnung« in seiner
juristischen oder umgangssprachlichen Bedeutung verwendet wird. Versteht
man unter »öffentlicher Sicherheit« insbesondere die Summe aller
Rechtsgüter, die durch Normen des öffentlichen Rechts geschätzt werden,
umfaßt dagegen die »Öffentliche Ordnung« nach der noch heute
überwiegend zitierten Definition des Preußischen
Oberverwaltungsgerichtes vom 9. November 1933 (!) »die Gesamtheit jener
ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der
Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden
Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten
staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird.« Zum Schutz
derartiger »Sozialnormen« galt zwischen den dreißiger und sechziger
Jahren vor allem das Nacktbaden oder Damenringkämpfe als strafwürdig.
Nachdem heute gegen »unsittliche« Veranstaltungen wie das Wegwerfen
einer Bierdose oder Lärmbelästigung mit Bestimmungen des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes oder der Bundes- und
Landesimmissionsschutzgesetze sowie des Ordnungswidrigkeitengesetzes
vorgegangen wird und damit praktisch dreifach abgesichert sind, bleibt
rechtlich für »ungeschriebene Sozialnormen« so gut wie kein Raum.
Demzufolge haben in den achtziger Jahren mehrere Bundesländer den
»Schutz der öffentlichen Ordnung« aus dem polizeilichen
Zuständigkeitsbereich gestrichen. Das mit der Renaissance der
öffentlichen Ordnung Verelendung lediglich aus dem Blickfeld gerückt,
aber weder gestoppt noch verboten werden kann, läßt den Soziologen
Wilhelm Heitmeyer befürchten, das die Stadt des 21. Jahrhunderts auf dem
Weg zurück ins 19. Jahrhundert ist, mit klar abgegrenzten Zonen und
Zitadellen. Und der Philosoph Ralf Dahrendorf geht sogar davon aus, daß
wir »vor einem autoritären Jahrhundert stehen.«
Christian Linde
|