Sie sind in der mittlerweile knapp neun Jahre
andauernde Geschichte der „Ratten 07" die vierte Regiebesetzung.
Gab es Ansätze Ihrer Vorgänger, an denen Sie nahtlos anknüpfen konnten,
oder begann mit der Übernahme der Verantwortung durch Sie quasi ein neues
Spiel?
Klar arbeiten wir anders. Das liegt allein schon daran,
dass wir Frauen sind, zu zweit arbeiten und bereits unsere Zusammenarbeit
von einer Auseinandersetzung lebt. Ein Ansatz ist aber immer auch geprägt
von der Geschichte einer Gruppe.Teil unserer politischen Aussage ist, dass
Hierarchien innerhalb der Gruppe immer wieder infrage gestellt werden.
Auch auf der Bühne gilt: Die Gruppe ist nur so stark, wie ihr
schwächstes Glied. Das bedeutet, jeder Einzelne ist dafür
verantwortlich, wie viel Spannung da ist und was passiert.
Der Wohnungslosenbereich begreift sich als
Hilfesystem. Welches Verhältnis entwickelt sich zwischen Regie und
Ensemble?
Wir sind keine Sozialarbeiterinnen oder Therapeutinnen und
haben keine Ambitionen, die Leute zu verändern, sie vom Alkoholismus zu
heilen oder gar zu resozialisieren. Klar ist es wichtig, zu unterstützen,
wenn der eine oder andere konkrete Probleme mit Behörden, dem Gericht
oder der Polizei hat. Es kommt schon immer mal wieder vor, dass jemand
verschwindet, dann werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um zu wissen,
was los ist. Aber da sind die RATTEN selbst oft am Besten. Sie wissen
genau, wie ernst es ist, wenn jemand ein Problem hat. Der Umgang ist rau,
aber in dieser Rauheit steckt viel Liebe und Verantwortung füreinander.
Es geht uns darum, Theater zu machen mit Leuten, die sich
aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen oder sich ausklinken, weil sie
nicht mitmachen wollen. Die RATTEN sind sehr politisch und wissen genau,
warum sie was, wo und mit wem machen wollen. Sie hassen wahrscheinlich
nichts mehr als Leute, die denken, sie könnten sie retten oder in die
Gesellschaft „zurückführen". Sie sind keine Opfer, die man
bemitleiden muss, denn sie wissen genau, warum sie sich für ein
unkonventionelles Leben entschieden haben. Jeder muss selbst wissen, was
er oder sie mit seinem oder ihrem Leben machen will. Es ist nicht unsere
Aufgabe, den Leuten zu verklickern, wie sie zu leben haben. Das wäre eine
Anmaßung.
Welchen Einfluss räumen Sie den Schauspielern bei
der Erarbeitung der Stoffe ein?
Wir kommen aus einer bildnerischen Ecke, die von einer
Einheit von Inhalten, Sprache und Bildern ausgeht. Wir versuchen, uns mit
der Gruppe auf die Suche zu begeben. Die Stärke und Eigenheit der
Einzelnen herauszuarbeiten. Das bedeutet eben nicht, in erster Linie
politische Thesen in den Raum zu stellen, sondern immer auch zu schauen,
was liegt darunter. Wie kommt es zu einer Situation. Wo kommen die
Einzelnen her. Was ist ihr Thema. Dabei ist der Probenprozess sehr
wichtig. Wir arbeiten zunächst gemeinsam an Improvisationen, die sehr
lebendig sind, durch die wir Spielmöglichkeiten finden, die man sich
nicht am Schreibtisch ausdenken kann. Die RATTEN sind großartig im
Improvisieren. Wir arbeiten mit Interviews, Rollenspielen und völlig
freien szenischen Übungen. Wenn es uns gelingt, die Leute auf der Bühne
in ihrer Eigenheit zum Leuchten' zu bringen, ist die inhaltliche Tragweite
eine ganz andere. Viele der Stücke, die prädestiniert sind für ein
Obdachlosentheater („Woyzeck" und „Leonce und Lena" von
Büchner, „Maschinenstürmer" von Toller, „Brotladen" von
Brecht) sind bereits von den RATTEN 07 gespielt worden. Wir haben uns im
letzten Jahr eher unbekannten Stücken gestellt, die man nicht unbedingt
von einem Obdachlosentheater erwartet. Diese Reibung kann sehr spannend
sein.
Welchen Begriff von „Authentizität" legen
Sie Ihrer Arbeit zu Grunde? Wie obdachlos muss man sein?
Schwierige Frage. Einfach deswegen, weil „Obdachlosigkeit"
ein weiter Begriff ist. Wie Lenin von den RATTEN 07 sagt, fängt „Obdachlosigkeit
im Hirn an". Die Leute, mit denen wir arbeiten sind, oder waren
obdachlos. Die wenigsten, die wir in obdachlosen Einrichtungen treffen,
machen Platte. Oft finden sie irgendwo ein Platz zum Schlafen, bei Kumpels
oder in ehemals besetzten Häusern. Momentan arbeiten wir zum Beispiel mit
zwei Darstellerinnen, die durch eine 72-er Maßnahme vorübergehend eine
Unterkunft bekommen haben. Sie haben jetzt zwar ein Dach über dem Kopf,
sind aber dennoch wohnungslos. Sie haben durch diese Übergangssituation
die Chance, sich wieder eine Wohnung zu suchen, leben aber immer noch in
Unsicherheit. Wir treffen auf Leute, die sozial geschwächt und dadurch
gefährdet sind, ihre Wohnung zu verlieren oder erst gar keine zu
bekommen, weil sie kein geregeltes Einkommen vorweisen können. Deshalb
müsste man vielleicht eher von Wohnungslosen als von Obdachlosen
sprechen.
Wir legen auf alle Fälle Wert darauf, dass die Gruppe
immer wieder offen sein muss für neue Leute. Deshalb ist es uns auch
wichtig, in Wärmestuben und Suppenküchen zu gehen, um das Projekt
vorzustellen, Kontakt zu Obdachlosen zu suchen und ihnen die Möglichkeit
zu bieten, mitzuwirken. Uns interessieren Leute, die ein krasses,
ruheloses Leben haben oder hatten. Sie sind direkter und unmittelbarer auf
der Bühne als Leute, die „Obdachlose" spielen wie in der
Schaubühne in „Personenkreis 3.1".
Uns interessiert es, mit Leuten zu arbeiten, die sonst
nicht gehört werden, die das erste Mal auf der Bühne stehen, die wütend
sind, die anders leben, weil sie anders leben müssen oder wollen. Eine
Gefahr der so genannten Authentizität ist, zeigen zu wollen wie „Obdachlose
aussehen", sie auszustellen. Das wird ja auch oft an der Idee des
Obdachlosentheaters kritisiert. Zu Recht. Denn den „authentischen
Obdachlosen", der das romantische Bild des Clochards erfüllt, gibt
es nicht.
Der Anteil wohnungsloser Frauen ist wesentlich
geringer und findet in großem Maße verdeckt statt. Wie rekrutieren Sie
Ihre Ensemblemitglieder?
Wir gehen seit Anfang des Jahres in Wärmestuben und
Suppenküchen, hauptsächlich in Kreuzberg und in der näheren Umgebung.
„Alice im Bett" wird nämlich nicht in der Volksbühne, sondern im
„Zentrum Kreuzberg" am Kotti aufgeführt. Wir sprechen dort Leute
an, die uns interessieren. Man braucht sehr viel Zeit, um überhaupt
Vertrauen zu gewinnen. Es gibt wenig, was kommunikativer ist, als ein
Nachmittag in der Heilig- Kreuz- Kirche. Wenn man gleich wieder einen
Termin hat, hat man verloren. Deshalb ist es auch schwierig, einen
Premierentermin zu haben, der einen unter Druck setzt. Unsere Erfahrung
ist, dass zwar spannende Leute zu den Proben kommen, aber oft sporadisch
und dann, wenn es ihnen gerade in den Kram passt. Um eine kontinuierliche
Arbeit zu machen, braucht man also Zeit, viel Zeit. Da wir „Alice im
Bett" hauptsächlich mit Frauen machen wollen, waren unsere ersten
Anlaufstellen Orte, die speziell für wohnungslose Frauen eingerichtet
sind, wie Evas Haltestelle oder Wohnprojekte für obdachlose Frauen.
Leider mussten wir bei unserer Suche feststellen, dass es zu wenig Orte
speziell für wohnungslose Frauen gibt. Wir stecken nun in einer Phase, in
der der Prozess der Arbeit noch wichtiger ist als das Ergebnis.
Wir stellen fest, dass es tatsächlich weniger obdachlose
Frauen als obdachlose Männer gibt. Außerdem findet Obdachlosigkeit bei
Frauen häufig - wie Sie sagen - verdeckt statt. Wir haben Frauen
getroffen, denen du auf den ersten Blick niemals abnehmen würdest, dass
sie schon länger auf der Straße leben. Sie achten sehr auf ihr
Äußeres, um nicht aufzufallen und um dadurch weniger angreifbar zu sein.
Frauen haben häufig große Schwierigkeiten, sich auf ein
Theaterprojekt einzulassen, weil sie sich durch ihre Lebenssituation so
gestresst fühlen, dass sie sich nicht vorstellen können, etwas anderes
zu machen, bevor sie nicht ihre Probleme bewältigt haben. Ganz oft hören
wir den Satz: „Oh, Theater, das hab ich tagtäglich genug, dafür
brauch' ich nicht auf eine Bühne zu gehen." Einige der Frauen wollen
auch nicht erkannt werden. Oft haben sie Angst vor Übergriffen von
Exfreunden oder einstigen Ehemännern, die sie durch ein Bild in der
Zeitung oder ihren Namen finden könnten. Manche wollen auch nicht gesehen
werden, weil sie nicht mehr so aussehen wie früher. „Wie soll ich denn
spielen, wenn ich doch keine Zähne im Mund habe?" Männer sind da
wesentlich unerschrockener. Aber das ist klar, denn das Leben auf der
Straße ist für Frauen noch härter als für Männer. Sie müssen immer
auch noch ihren Körper verteidigen.
Nicht jede Ihrer akquirierten DarstellerInnen werden
am Ende infrage kommen. Wie gehen Sie damit um, Ausgegrenzten durch
Selektion erneut das Gefühl von Ausgrenzung zu geben?
Jedes künstlerische Projekt bedeutet Ausgrenzung. Jeder
Weg, für den du dich entscheidest, bringt mit sich, dass sich manche
Leute davon ausgeschlossen fühlen oder dadurch ausgeschlossen werden.
Einen Raum, wo Verletzung oder Ausgrenzung nicht vorkommen, gibt es nicht.
Wenn wir als erstes den Anspruch hätten, eine Art Schutzraum zu bieten,
könnten wir keine künstlerische Arbeit machen. Grenzen setzen ist
geradezu existenziell für eine Theaterarbeit. Dabei kommt es natürlich
auf eine klare Haltung an. Es geht darum, sich einer Auseinandersetzung zu
stellen. Theater ist immer ein verletzlicher Raum, in jeder Hinsicht. Auch
wir sind davor nicht geschützt. Verantwortung haben wir nicht nur
Einzelnen gegenüber. Verantwortung tragen wir auch gegenüber der Gruppe
und der Arbeit.
Wie konfliktgeeignet werden die Stoffe, wie
konfliktbereit werden Sie sein?
Theater lebt von Konflikten. Das bezieht sich sowohl auf
die Stücke und deren Thematik, als auch auf den Probenprozess. Wir halten
nichts von Schwarzweißmalerei, wo es nur Gut und Böse gibt und auf der
Bühne nichts, als moralische Integrität gezeigt wird.
Die RATTEN, mit denen wir bislang gearbeitet haben, kommen
alle aus einer politisch linken Szene. Solidarität innerhalb einer Gruppe
ist extrem wichtig, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie
harmonisch sein muss. Eine Opferhaltung interessiert uns nicht. Theater
heißt für uns unbedingt, sich nicht immer auf die sichere Seite zu
stellen und unangreifbar zu bleiben, sondern auch Wagnisse einzugehen.
Eine klare politische Haltung ist dennoch möglich.
Einen Traum zu verlieren, sagt Abel vom Acker im
Schlussmonolog der „Sünde", ist wie ein Vermögen verlieren, was
sage ich, schlimmer. Unsere Sünde ist, unsere Träume verloren zu haben.
Dennoch müssen wir stark sein und uns sagen, auch wenn wir müde sind:
„Jetzt bin ich müde, jetzt bereue ich, aber morgen wird das nicht mehr
so sein." Das ist die Wahrheit, morgen kann das Leben nicht mehr das
hier sein. Man muss es ändern und sei es mit Gewalt."
Wenn du feststellst, dass du ein eher harmoniesüchtiger
Mensch bist, dass du lieber eine harmonische Arbeitssituation hast, als
dich einem Konflikt zu stellen, bist du falsch bei den RATTEN. Das treiben
sie dir gründlich aus. Hippiescheiße würden die RATTEN sagen. Konflikte
tauchen ständig auf und sind wichtig für die Arbeit. Konflikte innerhalb
der Gruppe und Konflikte mit uns. Das ist auch das Besondere an der
Arbeit. Nichts liegt - wie so oft am Theater - unter der Oberfläche, um
dort unterschwellig für Aggressionen und Magengeschwüre zu sorgen. Das
ist auch, was uns manchmal am Theaterbetrieb stört, dass eher Intrigen
gesponnen werden, als Unmut und Frust gegenüber den Betreffenden zu
äußern. Die RATTEN sind sehr direkt und ehrlich und zeigen einem sofort,
wenn man Scheiße gebaut hat. Damit muss man natürlich erst mal klar
kommen, ohne total verletzt zu sein.
Seit Jahrzehnten erklärt die Kritik das
Gegenwartstheater für tot. Tatsache ist, dass überwiegend „Klassiker",
jedoch kaum Gegenwartsautoren auf deutschen Bühnen gespielt werden. Ein
Stück in die Programme von Obdachlosentheatern spiegelt dieses
Missverhältnis. Was ist von Ihnen nach der aktuellen Inszenierung zu
erwarten?
Das ist nicht wichtig, von wann ein Stück ist.
Entscheidend ist doch der Blick, den man darauf wirft. Ganz davon
abgesehen haben wir mit den RATTEN bislang nur an neueren Texten
gearbeitet. „Die Sünde, die man nicht beim Namen nennen darf" ist
vor ein paar Jahren in Argentinien von Ricardo Bart’s entwickelt worden.
Es erzählt von Leuten, die zusammen eine Revolution planen, sich aber an
politischen Meinungsverschiedenheiten aufreiben oder in privaten
Streitereien verlieren. Der tiefe Wunsch nach Veränderung ist bei allen
vorhanden, aber niemand kann so recht über seinen Schatten springen.
Bewegt werden Dinge, nicht die Umstände.
„Enge im Haus und im Sarg" haben wir mit Kristof
Magnusson, einem jungen Autor, und den RATTEN selbst entwickelt. In diesem
Stück geht es um Täter und Opfer sein, oder spezieller, um Jäger und
Gejagte. Alles scheint möglich, aber subtile Ordnungen und
Reglementierungen lauern überall. Alle sprechen von der „Prinzessin",
die aber für jeden eine andere ist. Ihre Sehnsucht vereint und trennt sie
zugleich. Sie ist Projektionsfigur für alles, was einem fehlt.
Susan Sontags „Alice im Bett" ist von 1991 und
handelt von einer Frau, die sich nicht mehr bewegen will. Sie bleibt im
Bett, steigt aus, macht nicht mehr mit. Ein Verhalten, das von den meisten
um sie herum als Krankheit, Depression oder Schwäche gelesen wird. Für
uns aber ein Bild von Stärke: Alice verweigert sich offensiv, nimmt sich
wichtig. Für sie besteht das Leben nicht aus Arbeiten und jeden Tag einen
Tag älter werden. Sie sucht nach Begegnungen mit einer wirklichen Welt
und konfrontiert sich zugleich mit ihren Gefühlen.
Für dieses Stück haben wir Leute aus Wärmestuben,
Übergangswohnheimen und sonstigen Obdachloseneinrichtungen angesprochen,
die noch nie Theater gemacht haben. Es wird am 12. Mai im „Zentrum
Kreuzberg" am Kotti Premiere haben. Die RATTEN arbeiten zurzeit
eigenverantwortlich an einer Quizshow, die an verschiedenen Orten und zu
verschiedenen Gelegenheiten veranstaltet werden soll (z.B. am 19 Mai in
der Volksbühne) und fangen dann ebenfalls mit einer Theaterproduktion an,
die von Ursula Kohlert inszeniert wird, „Der Ameisenkönig".
Mit einem Obdachlosentheater klassische Stoffe zu machen,
finden wir aber nach wie vor spannend. Wenn Gerhard Schröder sagt, es
gibt in unserer Gesellschaft kein Recht auf Faulheit, so kannst du mit „Alice
im Bett" genauso dazu Stellung beziehen, wie mit einem deutlich
älteren „Oblomov". Themen wie Bevormundung, Ausgrenzung, Gewalt
und Heimatlosigkeit gab es schon immer. Sehnsüchte auch. Gerade Leute vom
Rande der Gesellschaft', Leute, die Grenzerfahrungen gemacht haben und
machen, können klassische Stücke ganz anders lesen. Mit ihnen werden oft
totgeglaubte Stoffe erst wieder lebendig.
In der derzeit - überwiegend in den Medien-
geführten Gewaltdebatte bleiben Obdachlose außen vor. Obwohl zur
Opfergruppe gehörend, ist das Verhältnis zu rechtsradikalen Positionen
bei den Betroffenen durchaus ambivalent. Wann sehen wir das erste Stück
über Ursache- und Wirkungszusammenhänge in einem Obdachlosentheater?
Für den Herbst planen wir ein Stück von Augusto Boal, in
dem es um Emigranten geht, die aus ihrem Heimatland fliehen mussten und
von Land zu Land gereicht werden. Überall werden sie ungern gesehen,
erfahren Ablehnung und Gleichgültigkeit, leben auf engstem Raum. In
dieser Arbeit werden wir automatisch auf Zusammenhänge von
Rechtsradikalismus und Obdachlosenproblematik stoßen.