Startseite
Aktuelles
Texte zur
Wohnungs-
losigkeit
Materialien
Medien
Termine
Kontakt
Forum
Adressen
Impressum
»Jedes künstlerische Projekt bedeutet Ausgrenzung«

Interview mit Christine Umpfenbach und Antje Wenningmann (C&A), seit April 2001 künstlerische Leiterinnen des Obdachlosentheaters »Ratten 07«

Sie sind in der mittlerweile knapp neun Jahre andauernde Geschichte der „Ratten 07" die vierte Regiebesetzung. Gab es Ansätze Ihrer Vorgänger, an denen Sie nahtlos anknüpfen konnten, oder begann mit der Übernahme der Verantwortung durch Sie quasi ein neues Spiel?

Klar arbeiten wir anders. Das liegt allein schon daran, dass wir Frauen sind, zu zweit arbeiten und bereits unsere Zusammenarbeit von einer Auseinandersetzung lebt. Ein Ansatz ist aber immer auch geprägt von der Geschichte einer Gruppe.Teil unserer politischen Aussage ist, dass Hierarchien innerhalb der Gruppe immer wieder infrage gestellt werden. Auch auf der Bühne gilt: Die Gruppe ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied. Das bedeutet, jeder Einzelne ist dafür verantwortlich, wie viel Spannung da ist und was passiert.

Der Wohnungslosenbereich begreift sich als Hilfesystem. Welches Verhältnis entwickelt sich zwischen Regie und Ensemble?

Wir sind keine Sozialarbeiterinnen oder Therapeutinnen und haben keine Ambitionen, die Leute zu verändern, sie vom Alkoholismus zu heilen oder gar zu resozialisieren. Klar ist es wichtig, zu unterstützen, wenn der eine oder andere konkrete Probleme mit Behörden, dem Gericht oder der Polizei hat. Es kommt schon immer mal wieder vor, dass jemand verschwindet, dann werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um zu wissen, was los ist. Aber da sind die RATTEN selbst oft am Besten. Sie wissen genau, wie ernst es ist, wenn jemand ein Problem hat. Der Umgang ist rau, aber in dieser Rauheit steckt viel Liebe und Verantwortung füreinander.

Es geht uns darum, Theater zu machen mit Leuten, die sich aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen oder sich ausklinken, weil sie nicht mitmachen wollen. Die RATTEN sind sehr politisch und wissen genau, warum sie was, wo und mit wem machen wollen. Sie hassen wahrscheinlich nichts mehr als Leute, die denken, sie könnten sie retten oder in die Gesellschaft „zurückführen". Sie sind keine Opfer, die man bemitleiden muss, denn sie wissen genau, warum sie sich für ein unkonventionelles Leben entschieden haben. Jeder muss selbst wissen, was er oder sie mit seinem oder ihrem Leben machen will. Es ist nicht unsere Aufgabe, den Leuten zu verklickern, wie sie zu leben haben. Das wäre eine Anmaßung.

Welchen Einfluss räumen Sie den Schauspielern bei der Erarbeitung der Stoffe ein?

Wir kommen aus einer bildnerischen Ecke, die von einer Einheit von Inhalten, Sprache und Bildern ausgeht. Wir versuchen, uns mit der Gruppe auf die Suche zu begeben. Die Stärke und Eigenheit der Einzelnen herauszuarbeiten. Das bedeutet eben nicht, in erster Linie politische Thesen in den Raum zu stellen, sondern immer auch zu schauen, was liegt darunter. Wie kommt es zu einer Situation. Wo kommen die Einzelnen her. Was ist ihr Thema. Dabei ist der Probenprozess sehr wichtig. Wir arbeiten zunächst gemeinsam an Improvisationen, die sehr lebendig sind, durch die wir Spielmöglichkeiten finden, die man sich nicht am Schreibtisch ausdenken kann. Die RATTEN sind großartig im Improvisieren. Wir arbeiten mit Interviews, Rollenspielen und völlig freien szenischen Übungen. Wenn es uns gelingt, die Leute auf der Bühne in ihrer Eigenheit zum Leuchten' zu bringen, ist die inhaltliche Tragweite eine ganz andere. Viele der Stücke, die prädestiniert sind für ein Obdachlosentheater („Woyzeck" und „Leonce und Lena" von Büchner, „Maschinenstürmer" von Toller, „Brotladen" von Brecht) sind bereits von den RATTEN 07 gespielt worden. Wir haben uns im letzten Jahr eher unbekannten Stücken gestellt, die man nicht unbedingt von einem Obdachlosentheater erwartet. Diese Reibung kann sehr spannend sein.

Welchen Begriff von „Authentizität" legen Sie Ihrer Arbeit zu Grunde? Wie obdachlos muss man sein?

Schwierige Frage. Einfach deswegen, weil „Obdachlosigkeit" ein weiter Begriff ist. Wie Lenin von den RATTEN 07 sagt, fängt „Obdachlosigkeit im Hirn an". Die Leute, mit denen wir arbeiten sind, oder waren obdachlos. Die wenigsten, die wir in obdachlosen Einrichtungen treffen, machen Platte. Oft finden sie irgendwo ein Platz zum Schlafen, bei Kumpels oder in ehemals besetzten Häusern. Momentan arbeiten wir zum Beispiel mit zwei Darstellerinnen, die durch eine 72-er Maßnahme vorübergehend eine Unterkunft bekommen haben. Sie haben jetzt zwar ein Dach über dem Kopf, sind aber dennoch wohnungslos. Sie haben durch diese Übergangssituation die Chance, sich wieder eine Wohnung zu suchen, leben aber immer noch in Unsicherheit. Wir treffen auf Leute, die sozial geschwächt und dadurch gefährdet sind, ihre Wohnung zu verlieren oder erst gar keine zu bekommen, weil sie kein geregeltes Einkommen vorweisen können. Deshalb müsste man vielleicht eher von Wohnungslosen als von Obdachlosen sprechen.

Wir legen auf alle Fälle Wert darauf, dass die Gruppe immer wieder offen sein muss für neue Leute. Deshalb ist es uns auch wichtig, in Wärmestuben und Suppenküchen zu gehen, um das Projekt vorzustellen, Kontakt zu Obdachlosen zu suchen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, mitzuwirken. Uns interessieren Leute, die ein krasses, ruheloses Leben haben oder hatten. Sie sind direkter und unmittelbarer auf der Bühne als Leute, die „Obdachlose" spielen wie in der Schaubühne in „Personenkreis 3.1".

Uns interessiert es, mit Leuten zu arbeiten, die sonst nicht gehört werden, die das erste Mal auf der Bühne stehen, die wütend sind, die anders leben, weil sie anders leben müssen oder wollen. Eine Gefahr der so genannten Authentizität ist, zeigen zu wollen wie „Obdachlose aussehen", sie auszustellen. Das wird ja auch oft an der Idee des Obdachlosentheaters kritisiert. Zu Recht. Denn den „authentischen Obdachlosen", der das romantische Bild des Clochards erfüllt, gibt es nicht.

Der Anteil wohnungsloser Frauen ist wesentlich geringer und findet in großem Maße verdeckt statt. Wie rekrutieren Sie Ihre Ensemblemitglieder?

Wir gehen seit Anfang des Jahres in Wärmestuben und Suppenküchen, hauptsächlich in Kreuzberg und in der näheren Umgebung. „Alice im Bett" wird nämlich nicht in der Volksbühne, sondern im „Zentrum Kreuzberg" am Kotti aufgeführt. Wir sprechen dort Leute an, die uns interessieren. Man braucht sehr viel Zeit, um überhaupt Vertrauen zu gewinnen. Es gibt wenig, was kommunikativer ist, als ein Nachmittag in der Heilig- Kreuz- Kirche. Wenn man gleich wieder einen Termin hat, hat man verloren. Deshalb ist es auch schwierig, einen Premierentermin zu haben, der einen unter Druck setzt. Unsere Erfahrung ist, dass zwar spannende Leute zu den Proben kommen, aber oft sporadisch und dann, wenn es ihnen gerade in den Kram passt. Um eine kontinuierliche Arbeit zu machen, braucht man also Zeit, viel Zeit. Da wir „Alice im Bett" hauptsächlich mit Frauen machen wollen, waren unsere ersten Anlaufstellen Orte, die speziell für wohnungslose Frauen eingerichtet sind, wie Evas Haltestelle oder Wohnprojekte für obdachlose Frauen. Leider mussten wir bei unserer Suche feststellen, dass es zu wenig Orte speziell für wohnungslose Frauen gibt. Wir stecken nun in einer Phase, in der der Prozess der Arbeit noch wichtiger ist als das Ergebnis.

Wir stellen fest, dass es tatsächlich weniger obdachlose Frauen als obdachlose Männer gibt. Außerdem findet Obdachlosigkeit bei Frauen häufig - wie Sie sagen - verdeckt statt. Wir haben Frauen getroffen, denen du auf den ersten Blick niemals abnehmen würdest, dass sie schon länger auf der Straße leben. Sie achten sehr auf ihr Äußeres, um nicht aufzufallen und um dadurch weniger angreifbar zu sein.

Frauen haben häufig große Schwierigkeiten, sich auf ein Theaterprojekt einzulassen, weil sie sich durch ihre Lebenssituation so gestresst fühlen, dass sie sich nicht vorstellen können, etwas anderes zu machen, bevor sie nicht ihre Probleme bewältigt haben. Ganz oft hören wir den Satz: „Oh, Theater, das hab ich tagtäglich genug, dafür brauch' ich nicht auf eine Bühne zu gehen." Einige der Frauen wollen auch nicht erkannt werden. Oft haben sie Angst vor Übergriffen von Exfreunden oder einstigen Ehemännern, die sie durch ein Bild in der Zeitung oder ihren Namen finden könnten. Manche wollen auch nicht gesehen werden, weil sie nicht mehr so aussehen wie früher. „Wie soll ich denn spielen, wenn ich doch keine Zähne im Mund habe?" Männer sind da wesentlich unerschrockener. Aber das ist klar, denn das Leben auf der Straße ist für Frauen noch härter als für Männer. Sie müssen immer auch noch ihren Körper verteidigen.

Nicht jede Ihrer akquirierten DarstellerInnen werden am Ende infrage kommen. Wie gehen Sie damit um, Ausgegrenzten durch Selektion erneut das Gefühl von Ausgrenzung zu geben?

Jedes künstlerische Projekt bedeutet Ausgrenzung. Jeder Weg, für den du dich entscheidest, bringt mit sich, dass sich manche Leute davon ausgeschlossen fühlen oder dadurch ausgeschlossen werden. Einen Raum, wo Verletzung oder Ausgrenzung nicht vorkommen, gibt es nicht. Wenn wir als erstes den Anspruch hätten, eine Art Schutzraum zu bieten, könnten wir keine künstlerische Arbeit machen. Grenzen setzen ist geradezu existenziell für eine Theaterarbeit. Dabei kommt es natürlich auf eine klare Haltung an. Es geht darum, sich einer Auseinandersetzung zu stellen. Theater ist immer ein verletzlicher Raum, in jeder Hinsicht. Auch wir sind davor nicht geschützt. Verantwortung haben wir nicht nur Einzelnen gegenüber. Verantwortung tragen wir auch gegenüber der Gruppe und der Arbeit.

Wie konfliktgeeignet werden die Stoffe, wie konfliktbereit werden Sie sein?

Theater lebt von Konflikten. Das bezieht sich sowohl auf die Stücke und deren Thematik, als auch auf den Probenprozess. Wir halten nichts von Schwarzweißmalerei, wo es nur Gut und Böse gibt und auf der Bühne nichts, als moralische Integrität gezeigt wird.

Die RATTEN, mit denen wir bislang gearbeitet haben, kommen alle aus einer politisch linken Szene. Solidarität innerhalb einer Gruppe ist extrem wichtig, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie harmonisch sein muss. Eine Opferhaltung interessiert uns nicht. Theater heißt für uns unbedingt, sich nicht immer auf die sichere Seite zu stellen und unangreifbar zu bleiben, sondern auch Wagnisse einzugehen. Eine klare politische Haltung ist dennoch möglich.

Einen Traum zu verlieren, sagt Abel vom Acker im Schlussmonolog der „Sünde", ist wie ein Vermögen verlieren, was sage ich, schlimmer. Unsere Sünde ist, unsere Träume verloren zu haben. Dennoch müssen wir stark sein und uns sagen, auch wenn wir müde sind: „Jetzt bin ich müde, jetzt bereue ich, aber morgen wird das nicht mehr so sein." Das ist die Wahrheit, morgen kann das Leben nicht mehr das hier sein. Man muss es ändern und sei es mit Gewalt."

Wenn du feststellst, dass du ein eher harmoniesüchtiger Mensch bist, dass du lieber eine harmonische Arbeitssituation hast, als dich einem Konflikt zu stellen, bist du falsch bei den RATTEN. Das treiben sie dir gründlich aus. Hippiescheiße würden die RATTEN sagen. Konflikte tauchen ständig auf und sind wichtig für die Arbeit. Konflikte innerhalb der Gruppe und Konflikte mit uns. Das ist auch das Besondere an der Arbeit. Nichts liegt - wie so oft am Theater - unter der Oberfläche, um dort unterschwellig für Aggressionen und Magengeschwüre zu sorgen. Das ist auch, was uns manchmal am Theaterbetrieb stört, dass eher Intrigen gesponnen werden, als Unmut und Frust gegenüber den Betreffenden zu äußern. Die RATTEN sind sehr direkt und ehrlich und zeigen einem sofort, wenn man Scheiße gebaut hat. Damit muss man natürlich erst mal klar kommen, ohne total verletzt zu sein.

Seit Jahrzehnten erklärt die Kritik das Gegenwartstheater für tot. Tatsache ist, dass überwiegend „Klassiker", jedoch kaum Gegenwartsautoren auf deutschen Bühnen gespielt werden. Ein Stück in die Programme von Obdachlosentheatern spiegelt dieses Missverhältnis. Was ist von Ihnen nach der aktuellen Inszenierung zu erwarten?

Das ist nicht wichtig, von wann ein Stück ist. Entscheidend ist doch der Blick, den man darauf wirft. Ganz davon abgesehen haben wir mit den RATTEN bislang nur an neueren Texten gearbeitet. „Die Sünde, die man nicht beim Namen nennen darf" ist vor ein paar Jahren in Argentinien von Ricardo Bart’s entwickelt worden. Es erzählt von Leuten, die zusammen eine Revolution planen, sich aber an politischen Meinungsverschiedenheiten aufreiben oder in privaten Streitereien verlieren. Der tiefe Wunsch nach Veränderung ist bei allen vorhanden, aber niemand kann so recht über seinen Schatten springen. Bewegt werden Dinge, nicht die Umstände.

„Enge im Haus und im Sarg" haben wir mit Kristof Magnusson, einem jungen Autor, und den RATTEN selbst entwickelt. In diesem Stück geht es um Täter und Opfer sein, oder spezieller, um Jäger und Gejagte. Alles scheint möglich, aber subtile Ordnungen und Reglementierungen lauern überall. Alle sprechen von der „Prinzessin", die aber für jeden eine andere ist. Ihre Sehnsucht vereint und trennt sie zugleich. Sie ist Projektionsfigur für alles, was einem fehlt.

Susan Sontags „Alice im Bett" ist von 1991 und handelt von einer Frau, die sich nicht mehr bewegen will. Sie bleibt im Bett, steigt aus, macht nicht mehr mit. Ein Verhalten, das von den meisten um sie herum als Krankheit, Depression oder Schwäche gelesen wird. Für uns aber ein Bild von Stärke: Alice verweigert sich offensiv, nimmt sich wichtig. Für sie besteht das Leben nicht aus Arbeiten und jeden Tag einen Tag älter werden. Sie sucht nach Begegnungen mit einer wirklichen Welt und konfrontiert sich zugleich mit ihren Gefühlen.

Für dieses Stück haben wir Leute aus Wärmestuben, Übergangswohnheimen und sonstigen Obdachloseneinrichtungen angesprochen, die noch nie Theater gemacht haben. Es wird am 12. Mai im „Zentrum Kreuzberg" am Kotti Premiere haben. Die RATTEN arbeiten zurzeit eigenverantwortlich an einer Quizshow, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Gelegenheiten veranstaltet werden soll (z.B. am 19 Mai in der Volksbühne) und fangen dann ebenfalls mit einer Theaterproduktion an, die von Ursula Kohlert inszeniert wird, „Der Ameisenkönig".

Mit einem Obdachlosentheater klassische Stoffe zu machen, finden wir aber nach wie vor spannend. Wenn Gerhard Schröder sagt, es gibt in unserer Gesellschaft kein Recht auf Faulheit, so kannst du mit „Alice im Bett" genauso dazu Stellung beziehen, wie mit einem deutlich älteren „Oblomov". Themen wie Bevormundung, Ausgrenzung, Gewalt und Heimatlosigkeit gab es schon immer. Sehnsüchte auch. Gerade Leute vom Rande der Gesellschaft', Leute, die Grenzerfahrungen gemacht haben und machen, können klassische Stücke ganz anders lesen. Mit ihnen werden oft totgeglaubte Stoffe erst wieder lebendig.

In der derzeit - überwiegend in den Medien- geführten Gewaltdebatte bleiben Obdachlose außen vor. Obwohl zur Opfergruppe gehörend, ist das Verhältnis zu rechtsradikalen Positionen bei den Betroffenen durchaus ambivalent. Wann sehen wir das erste Stück über Ursache- und Wirkungszusammenhänge in einem Obdachlosentheater?

Für den Herbst planen wir ein Stück von Augusto Boal, in dem es um Emigranten geht, die aus ihrem Heimatland fliehen mussten und von Land zu Land gereicht werden. Überall werden sie ungern gesehen, erfahren Ablehnung und Gleichgültigkeit, leben auf engstem Raum. In dieser Arbeit werden wir automatisch auf Zusammenhänge von Rechtsradikalismus und Obdachlosenproblematik stoßen.

Interview: Christian Linde

Veröffentlicht in: motz 9/2001 (gekürzte Fassung)
Zurück zum Inhaltsverzeichnis: Texte zur Wohnungslosigkeit

Zurück zur Startseite