Wenn am Morgen Arbeiter tonnenweise
Salatköpfe, Tomaten, Weintrauben und Avocados mit Gabelstaplern auf
Berlins größter Verteilerzentrale für Obst und Gemüse zu den
Müllcontainern transportieren, beginnt auch Lothar Kämpers Einsatz. Denn
was hier entsorgt werden soll, ist zumeist keine verdorbene Ware, sondern
entspricht nur nicht mehr den Ansprüchen des verwöhnten Konsumenten.
Es ist kurz nach
neun, wenn die unzähligen Kisten in dem Transporter verstaut sind und der
54jährige vom Hof in der Beusselstraße in Moabit fährt. Lothar Kämper
ist einer von insgesamt rund 130 Helfern, die in Berlin in ihrer Freizeit
Lebensmittel sammeln die zu viel geordert, überproduziert oder einfach
nicht verkauft wurden. Mit den inzwischen fünf eigenen Transportern und
mit Privatautos sammeln die Mitarbeiter der „Berliner Tafel" die
Lebensmittel aus Supermärkten und Bäckereien, aus Hotelküchen oder, wie
Lothar Kämper, vom Fruchthof. Mit der gesammelten Ware werden dann über
170 soziale Einrichtungen in Berlin beliefert, die alle gleichermaßen von
der Kürzungs- und Streichungspolitik des Berliner Senats betroffen sind.
Darunter Psycho-, Behinderten- und HIV-Beratungsstellen, Frauenhäuser und
Asylbewerberwohnheime, aber vor allem Obdachloseneinrichtungen.
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Die Fotos wurden vom Franziskanerkloster
Berlin-Pankow in der Wollankstraße zur Verfügung gestellt.
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Doch ob Fleisch, Brot, Obst, Gemüse,
Salate, Kaffee oder Tee, der Anteil der Menschen, die nicht obdachlos
sind, aber für die Essen und Trinken nicht mehr ein selbstverständlich
verfügbares Gut ist, sondern zunehmend zu einem Luxus wird und die sich
in Suppenküchen und Wärmestuben nach einer Mahlzeit anstellen, wächst.
Denn in Berlin leben nicht nur über 180.000 Arbeitslose, sondern beziehen
mittlerweile knapp 300.000 Personen Sozialhilfe. Das heißt, diese
Menschen haben durchschnittlich weniger als 100 Mark pro Woche, um ihr
Leben bestreiten zu können. Vor allem sie gehören in einem immer
größeren Maße zu den „Kunden" der Berliner Tafel. „Ohne die
Lebensmittellieferungen der Tafel wäre unsere Arbeit überhaupt nicht
mehr denkbar. Bei uns sind es vor allem Familien, bei denen das Geld bis
zum Monatsende nicht mehr reicht", weiß eine Mitarbeiterin der
Suppenküche im Bezirk Pankow. „Wir kommen seit einem halben Jahr hier
her, dadurch spare ich Haushaltsgeld. Das kann ich dringend für die
Versorgung der Kinder mit Kleidung, Unterrichtsmaterial und ab und zu mal
ein paar Spielsachen einsetzen", sagt Almuth Brinker. Die 48jährige
ist seit zwei Jahren arbeitslos. Ihr Mann ist zwar noch erwerbstätig,
aber der Lohn des Kraftfahrers reicht nicht aus, um zusammen mit dem
Arbeitslosengeld seiner Frau eine fünfköpfige Familie zu finanzieren.
Kathrin, die älteste Tochter, geht nicht mit in die Suppenküche. Die
vierzehnjährige schämt sich dafür, das ihre Eltern zu den Armen
gehören. „Wenn mich Klassenkameraden sehen würden, wie ich in die
Suppenküche gehe, würde ich mich am nächsten Tag nicht mehr in die
Schule wagen", sagt Kathrin.
„Müll gehört auf die Kippe"
Auch die Mitarbeiter der Wärmestube in der Heilig-Kreuz-Kirche in
Kreuzberg, dem Bezirk mit der höchsten Arbeitslosenquote in Berlin,
stellen den immer größeren Zulauf von Arbeitslosen,
Sozialhilfeempfängern und Jugendlichen fest. Auch hier entlasten immer
mehr Menschen ihre Haushaltskasse durch das kostenlose Essen. „Eltern
schicken ihre Kinder zu uns, damit sie sich hier satt essen können",
berichtet Christiane Pförtner von der Arbeitsgemeinschaft Leben mit
Obdachlosen, einem Zusammenschluß von mehr als 70 kirchlichen
Einrichtungen in der Wohnungslosenhilfe, die ihren Sitz in der
Heilig-Kreuz-Kirche hat. Auch Studenten, alleinerziehende Frauen und
Rentner suchen regelmäßig am Mittwoch die Wärmestube für Obdachlose am
Halleschen Tor auf. „Sie sollten einmal sehen, wenn ich zehn Brote hoch
halten und fragen kann, wer braucht Brot. Oder wenn ich fünf Kartons mit
Kuchen nebeneinanderstellen kann, was dann los ist", freut sich
Pfarrer Joachim Ritzkowsky über die regelmäßige Belieferung durch die
„Berliner Tafel".
Das System der Tafel basiert auf
ehrenamtlicher Arbeit. Neben Berufstätigen und Studenten engagieren sich
auch Arbeitslose und Rentner bei der Berliner Tafel. „Mit dem Namen
wollten wir ausdrücken, daß wir denen eine Tafel decken wollen, die es
sich sonst nicht leisten können", sagt Tafel-Gründerin Sabine
Werth. Mit anderen Frauen rief die Sozialarbeiterin vor sieben Jahren die
erste Tafel in Berlin ins Leben. Inzwischen stehen nicht nur mehr als
über hundert Mitarbeiter auf der Liste des gemeinnützigen Vereins, auch
die Schlange der Spender wird immer länger. Neben zahllosen
Einzelhändlern aus der Lebensmittelbranche, Supermarktketten und
Kaufhäuser, überlassen auch die Deutsche Bank oder verschiedene Lions
Clubs nach Veranstaltungen übriggebliebene kalte Platten. Auf den Zustand
des Essens wird besonders geachtet. „Wir legen großen Wert auf die
Qualität der Lebensmittel. Unsere Maxime lautet: Müll gehört auf die
Kippe, nicht zu uns", betont Sabine Werth. Allein der Anteil der
gekochten Mahlzeiten am gesamten Spendenaufkommen beträgt 28 Prozent.
Obst und Gemüse 21 Prozent und Backwaren 34 Prozent. Insgesamt 4 Tonnen
Lebensmittel pro Woche gelangen durch die Tafelarbeit an Bedürftige.
Brosamen vom Tisch der
Überflußgesellschaft
Die Idee der „Tafel" ist siebzehn Jahre alt und stammt aus den USA.
Mitarbeiter der Organisation „City Harvest" waren 1983 in New York
die ersten Aktivisten, die als ehrenamtliche Helfer in der Millionenstadt
übriggebliebene Lebensmittel sammelten, um sie an Arme und Obdachlose
kostenlos abzugeben. Ein Zeitungsbericht gab den Anstoß, auch in
Deutschland zum Mittel der Selbsthilfe zu greifen. Inzwischen existieren
bundesweit 336 „Tafeln" mit über 7.000 freiwilligen Helfern, die
mehr als 250.000 Kilogramm Nahrungsmittel pro Tag an Bedürftige verteilen
.
In der Bankenstadt Frankfurt am Main
arbeiten in der seit 1995 existierenden Tafel inzwischen 25 Ehrenamtliche
mit. Nicht nur Tages- und Übernachtungsstellen für Wohnungslose, sondern
vor allem Kindertagesstätten werden beliefert. „Die Eltern kriegen ihre
Kinder kaum noch satt", berichtet Hella Schmieder. Unterstützung
erhält die 78jährige Gründerin der Frankfurter Tafel inzwischen auch
von Studenten, die ihr Praktikum in der gemeinnützigen Organisation
absolvieren. Seit Bankdirektoren und Ärzte zur Mitgliedschaft des Vereins
gehören, hat die Spendenbereitschaft erheblich zugenommen. Die vier bis
fünf Tonnen Lebensmittel werden über Frankfurt hinaus bis nach Darmstadt
und Worms an Bedürftige weitergegeben.
Düsseldorf steht als Synonym für Luxus
und Wohlstand. Aber neben dem Überfluß und dem Glanz der „Kö"
gibt es auch Armut und Bedürftigkeit in der Landeshauptstadt von
Nordrhein-Westfalen. 33 ehrenamtliche Helfer und Zivildienstleistende
arbeiten fünf Tage in der Woche, um die Ware, die dem verwöhnten Kunden
nicht mehr zugemutet werden kann – Äpfel mit Druckstellen, überreife
Erdbeeren oder braun-gesprenkelte Bananen – dorthin zu transportieren,
wo sie gebraucht wird. Mehr als vierzig Tafeln gibt es inzwischen in NRW.
Selbst im Musterländle Baden-Württemberg
ist die Armut angesichts des Soziallabbaus so groß, daß Lebensmittel an
Bedürftige verteilt werden müssen. Doch auch in Sachen Armenversorgung
laufen die Uhren im sparsamen Stuttgart anders als im übrigen
Bundesgebiet. Nur unter Vorlage eines sogenannten Einkaufsausweises
können Bedürftige in kommerziell betriebenen Einkaufsläden ihre
tägliche Ration an Essen und Trinken erwerben. Pfarrer Martin Friz,
Leiter der Stuttgarter Tafel, verteidigt das vom Tafelprinzip abweichende
Konzept. „Die Ware soll etwas Wert sein. Und dennoch liegen wir mit den
Preisen durchschnittlich um 30 Prozent unter dem teuersten Anbieter in
herkömmlichen Einkaufsläden", sagt Friz. Und Bedarf besteht im
reichsten Bundesland der Republik reichlich. 100.000 Arbeitsplätze sind
in den vergangenen Jahren im Raum Stuttgart vernichtet worden. Neben
Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gehören auch Bafög-Bezieher zu
den Stammkunden in den fünfzehn Läden der Stuttgarter Tafel. 15
Arbeitsplätze konnten inzwischen geschaffen werden. Daimler-Benz und das
Land Baden-Württemberg gehören zu den regelmäßigen Geldspendern der
Einrichtung. „Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit breitet sich massive
Armut aus. Die Notwendigkeit Bedürftige zu unterstützen wird in den
kommenden Jahren weiter zunehmen", befürchtet Pfarrer Friz.
Kontaktadressen: |
Berliner Tafel
Ebersstraße 77
10827 Berlin
Ansprechpartnerin:
Sabine Werth
Telefon 030/782 74 14 |
Brandenburger Tafel
Am Seehof 56
14776 Brandenburg
Ansprechpartnerin:
Liselotte Brozat
Telefon 03781/713654 |
Spremberger Tafel
Kesselstraße 1
03130 Spremberg
Ansprechpartnerin:
Brigitte Frettwurst
Telefon 03563/60 14 36 |
Immer mehr „Tafeln" in
Ostdeutschland
Arbeitslosigkeit ist auch in den fünf neuen Bundesländern die
Hauptursache für die rasante Armutsentwicklung. Laut einer Studie des
Institutes für Grundlagen- und Programmforschung (GP) an der Universität
München haben sich in den vergangenen neun Jahren in Ostdeutschland
allein die Kosten für Lebensmittel, Kaltmieten, Bekleidung,
Kinderbetreuung und Versicherungsbeiträge im Durchschnitt um über 40
Prozent erhöht. Gleichzeitig sind insgesamt 37,5 Prozent aller
ostdeutschen Haushalte in bankmäßigen Krediten verschuldet. Grund genug
für immer mehr Menschen Suppenküchen und Wärmestuben aufzusuchen.
In Leipzig ist fast 18 Prozent der
erwerbsfähigen Bevölkerung ohne Arbeitsplatz. Im Verhältnis zu den 15
größten Städten in der Bundesrepublik ist es die Stadt, die nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes mit 3.509 Mark am wenigsten Hilfe
zum Lebensunterhalt pro Jahr und pro Kopf gezahlt hat. Seit 1996 arbeitet
auch hier eine Tafel-Initiative. Neben Wohnungslosenstätten, Kinderheimen
und Betreuungseinrichtungen für Behinderte gehören auch Großfamilien zu
den Beziehern. Doch nicht nur Nahrung, sondern sogar Mittel zur
medizinischen Versorgung werden inzwischen von der Leipziger Tafel an
private Haushalte verteilt. „Vor allem Familien mit mehreren Kindern
werden immer bedürftiger", so eine ehrenamtliche Helferin.
In Dresden beliefern 55 ehrenamtliche
Mitarbeiter, Berufstätige, Studierende, Arbeitslose, Vorruheständler und
fünf über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigte Personen mehr als
65 soziale Kontakt- und Beratungsstellen, Anlaufpunkte für Kinder,
Jugendfreizeitheime und Senioreneinrichtungen. Neben den klassischen
sozialen Einrichtungen gehören auch immer mehr private Haushalte zu den
Empfängern der Lebensmittelspenden. Und damit sichergestellt ist, daß
die Nahrungsmittel auch eßbar sind, muß die Tafel regelmäßig eine
Sammlungsgenehmigung einholen, die ausweist, welchen Wert die Lebensmittel
haben. „In Sachsen ist alles sehr straff organisiert", sagt die
Leiterin Edith Franke, „die Tafel, muß regelmäßig Rechenschaft an das
Regierungspräsidium ablegen".
Über 100.000 Bedürftige Tag für Tag
Mit den Jahren hat sich auch das Klientenbild verändert. „Während sich
die Arbeit der Tafeln zunächst auf Obdachlose konzentriert hat, hat sich
der Schwerpunkt inzwischen auf alleinerziehende Frauen, Kinder alte und
Arbeitslose verlagert, die in einem normalen Umfeld oder in sozialen
Brennpunkten leben. Mehr als 100.000 bedürftige Menschen werden in
Deutschland täglich mit Lebensmitteln versorgt", so der Vorsitzende
des Bundesverbandes der Deutschen Tafeln, Jürgen Gessner. Zur
Professionalisierung des Non-Profit-Bereiches haben inzwischen auch andere
Spender beigetragen. Zahlreiche Firmen unterstützen die Tafeln
inzwischen. So stellt ein Mobilfunkunternehmen kostenlos allen Tafeln
Handys zur Verfügung. DaimlerChrysler stiftete für zahlreiche Tafeln
Transporter. Der TV-Sender Pro Sieben unterstützt mit kostenlosen
Werbespots seit achtzehn Monaten die Aktivitäten der Tafeln. Die lokale
Zusammenarbeit aber bildet die eigentliche Basis der Arbeit.
Kritiker werfen den Tafelinitiatoren vor,
daß sie mit ihrer freiwilligen Arbeit den Staat aus seiner sozialen
Verantwortung entlassen. Die Arbeit lindere zwar die Not, ändere aber
nichts an den gesellschaftlichen Strukturen, die diese Not erst erzeugen.
So weigern sich einige Wohnungslosentagesstätten Lebensmittel von der
Tafel anzunehmen. Sabine Werth weist die Vorwürfe zurück. „Die
Situation in unserem Land ist nicht schlechter geworden, weil wir
versuchen zu helfen, sondern durch die Ignoranz der Regierungsparteien und
all den politischen Kräften, die diese Politik stützen. Wir versuchen
Lücken im Bereich der Essensversorgung zu schließen. Diese Lücken sind
nicht durch uns entstanden, sondern durch die Regierungen in Bund und
Ländern. Der Staat nimmt sich aus der Pflicht. Die Arbeit der Tafeln, die
sich in den letzten Jahren nach dem Vorbild Berlins gegründet haben,
weist nur immer wieder auf die Mißstände hin. Gleichzeitig versuchen wir
die Sozialarbeiter in den verschiedenen Einrichtungen zu entlasten, denn
so brauchen sie sich nicht auch noch um die Essensversorgung zu bemühen,
sondern können sich auf ihren politischen Kampf, um den Erhalt ihrer
Einrichtungen kümmern. Gäbe es Armut und Obdachlosigkeit nicht,
bräuchten die Tafeln nicht zu existieren", argumentiert Werth.
Korrekt müssen in erster Linie die
Abnehmer der Spenden sein. „Immerhin bekommen diese Einrichtungen von
uns Lebensmittel kostenlos zur Verfügung gestellt. Da wollen und müssen
wir verhindern, daß dort die Spenden verkauft werden. Für uns selbst
sehe ich da kein Problem, da wir das Essen nur nehmen und ansonsten nichts
mit den Gebern zu tun haben, ist da auch keine Einflußnahme möglich. Ein
Lebensmittel ist nicht politisch. Wir arbeiten zwar überparteilich, aber
sind in unserem Tun dennoch nicht unpolitisch", betont Sabine Werth.
Christian Linde
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