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Wie wollen Wohnungslose wohnen?

Alternative Wohnformen in der Diskussion

Die Zahl der Menschen in prekären Lebenslagen nimmt vehement zu. Doch der sich vollziehende Wandel des Klientenbildes in der Wohnungslosenhilfe geht weitestgehend an der Politik und dem Versorgungssystem vorbei. Einer dauerhaften Wohnungsversorgung von Obdachlosen mit Modellvorhaben im experimentellen Wohnungs- und Städtebau wollen Selbsthilfegruppen nun mit „alternativen Wohnformen" ergänzen. Gleichzeitig droht in Berlin durch ein Qualitätscontrolling des Berliner Senates eine Reduzierung des Angebotes für Betroffene.

Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der – registrierten – Wohnungslosen in Berlin seit acht Jahren rückläufig. Waren es 1993 noch 11.603 Menschen, zählte die Senatssozialverwaltung 1999 nur noch 6.568 Personen, die über keinen eigenen Wohnraum verfügten. Zum Vergleich: Im Flächenland Nordrhein-Westfalen reduzierten sich die Zahlen der ordnungsrechtlich untergebrachten Personen im gleichen Zeitraum sogar von 52.181 (1993) auf 29.707 (1999). Auch in Ostdeutschland sind die Zahlen nach anfänglichem sprunghaften Anstieg seit 1996 rückläufig. So sank die Quote in Sachsen von 2.516 im Jahre 1996 auf 2.193 im vergangenen Jahr. Gleichzeitig nimmt die Zahl der von akuter Wohnungsnot bedrohter Menschen zu. So sind in Berlin jährlich mindestens 12.000 Menschen durch Räumungsklagen von Wohnungsverlusten bedroht. Tendenz steigend. Und dies, obwohl die Summe der im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) geleisteten Mietschuldenübernahmen seit 1996 bei jährlich über 20 Millionen Mark liegen.

Zahl der Menschen in prekären Lebenslagen nimmt zu
Hauptursache für einen Wohnungsverlust sind fast ausschließlich Mietschulden. Während das Landesamt für Statistik eine Steigerungsrate der durchschnittlichen Miete von 1993 bis 1998 ohne entsprechende Kompensation durch höhere Einkommen um 37 Prozent ermittelt hat, stieg nach Angaben des Verbandes der Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU) die Höhe der Mietschulden inzwischen auf 323 Millionen Mark an. Allein in den Ostberliner Bezirken ist ein Zuwachs um 23 Prozent auf nunmehr 166 Millionen Mark zu verzeichnen. Da die BBU-Mitgliedsunternehmen nur rund die Hälfte aller Mietwohnungen in der Region verwalten, dürfte die Gesamtmietschuldensumme damit bei weit über einer halben Milliarde Mark liegen. Nach Einschätzung von Experten sind in Berlin über 150.000 Haushalte überschuldet, das heißt zahlungsunfähig.

Die Ende vergangenen Jahres vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vorgelegte Studie „Armut und Ungleichheit in Deutschland" weist für das Jahr 1998 jeden elften Bundesbürger (9,1 Prozent) als einkommensarm aus. „Als einkommensarm gelten dabei Bürger, die mit ihrem Einkommen unter der Armutsschwelle von 50 Prozent des durchschnittlich verfügbaren bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens liegen." Entsprechend die Einschätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) für die Gruppe der Wohnungsnotfälle. „Mit Blick auf die Zukunft kann nicht von einer Entwarnung bei der weiteren Entwicklung der Wohnungslosigkeit gesprochen werden, da in den kommenden Jahren der verfügbare Sozialwohnungsbestand, auf den einkommensschwache Haushalte angewiesen sind, weiter rückläufig sein wird. Darüber hinaus ist die Zahl der von Wohnungsverlust bedrohten Haushalte von 1998 auf 1999 nach Angaben von Kommunen wie schon im Vorjahr angestiegen. Wichtigste Gründe für diese Entwicklung sind die Langzeitarbeitslosigkeit vieler Haushalte und die damit einhergehende steigende Sozialhilfebedürftigkeit", prognostiziert die Bielefelder Einrichtung.

Wandel des Klientenbildes
Niederschlag findet diese Entwicklung in der immer zunehmenden Frequentierung von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe durch Arbeitslose, Sozialhilfebeziehende und andere Personengruppen der Armutsbevölkerung. So entlasten immer mehr sozial Schwache ihre Haushaltskasse durch das kostenlose Essen in Suppenküchen und Wärmestuben. „Eltern schicken ihre Kinder zu uns, damit sie sich hier satt essen können", berichtet Christiane Pfärtner von der Arbeitsgemeinschaft Leben mit Obdachlosen, einem Zusammenschluß von mehr als 70 kirchlichen Einrichtungen in der Wohnungslosenhilfe.

Die Wohnungslosenhilfe konzentriert sich in ihrer Arbeit in erster Linie auf die Behebung der Wohnungslosigkeit durch Wohnraumbeschaffung und Wohnraumvermittlung. Dabei schließt die herkömmliche Zielgruppenorientierung, ausgehend von dem Instrumentarium des Bundessozialhilfegesetzes (Paragraph 72), fast ausschließlich an alleinstehende Wohnungslose an. Ausgeschlossen werden alle Wohnungslosen, deren Hilfebedarf sich als inkompatibel zur Rechtsnorm des Paragraphen 72 erweisen. „Zugespitzt könnte man sagen, das die Kundschaft der freien Träger nicht über reale Bedarfe, sondern vielmehr über die Kostenanerkenntnis definiert wird", stellte 1999 Ekke-Ulf Ruhstadt in seiner Untersuchung „zu Lebenslagen und Klienten im Wandel" fest. Die weiteren Lebenslagen, wie Drogensucht und psychische Erkrankungen werden immer noch vernachlässigt.

Nachdem sich soziale Einrichtungen seit Anfang der neunziger Jahre mehr und mehr gezwungen sehen, mit dem Einsatz von Knowhow und finanziellen Mitteln in eigener Regie Wohnraum für ihre Klientel zu erschließen und zu bewirtschaften, das allein durch Beratung und Hilfe bei der Wohnungssuche die Unterbringung von Hilfesuchenden in Normalwohnraum immer weniger gelungen ist, hat sich ein neuer Trend etabliert. Nachdem das Bundesbauministerium im Sommer 1993 im Rahmen des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau" das Forschungsfeld „Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen" eingerichtet hat, sind seit Mitte der neunziger Jahre von 51 eingereichten Projekten sieben Bauvorhaben in Ost- und Westdeutschland (Berlin, Bielefeld, Hagen, Hannover, Jena, Rüdersdorf, Stuttgart) vor allem von Einrichtungen der freiverbandlichen Sozial- und Jugendhilfeträger organisiert worden. Die Zielssetzung: wirtschaftliche Existenzsicherung, Haushaltsführung, Alltagsbewältigung, Gesundheitsförderung, psychosoziale Betreuung und Freizeitgestaltung. Mit dem Beginn des neuen Jahres beabsichtigen auch Aktivisten von Selbsthilfegruppen für eine größere Bedarfsorientierung zu sorgen. „Wohnungslosen kann nicht allein mit einer Wohnung geholfen werden. Die Problemlagen der Betroffenen sind viel komplexer", sagt Stefan Schneider, Vorsitzender des in Berlin ansässigen Obdachlosenselbsthilfevereins mob e.V.

Wohnen durch Selbsthilfe
Um einen erfahrbaren Zusammenhang von Wohnen, Arbeiten und Kommunikation herzustellen, konnte der Verein, der gleichzeitig Herausgeber der Obdachlosengazette „Straßenzeitung" ist, im Rahmen des Programms „Wohnungspolitische Selbsthilfe" das Land Berlin als Fördergeber gewinnen und projektiert im kommenden Frühjahr die Instandsetzung und Modernisierung eines Miethauses in einem der Sanierungsgebiete des Bezirkes Pankow-Prenzlauer Berg. Bei einem Kostenpunkt von 3,9 Millionen Mark, von denen knapp 700.000 Mark in Eigenleistung erbracht werden müssen, sollen rund 20 ehemals oder aktuell von Wohnungslosigkeit Betroffene mit 50.000 geleisteten Arbeitsstunden direkt an der Fertigstellung beteiligt werden. „Am Ende sollen mehrheitlich diejenigen das Objekt bewohnen, die heute noch die Straßenzeitung verkaufen", sagt Schneider. Ein weitere Initiative ist das vom Verein Stütze e.V. geplante Projekt eines „Selbsthilfezentrums" in Plötzensee. Ein in den vergangenen Jahren im Rahmen der Kältehilfe vom Deutschen Roten Kreuz teilgenutztes viergeschossiges Haus soll für verschiedene Formen von Übernachtungs-, Wohn-, Arbeits-, Bildungs- und Freizeitprojekten und -aktivitäten entwickelt werden. „Mit gezielten Angeboten im Bereich von Arbeit und Beschäftigung will das Selbsthilfezentrum Menschen Schritt für Schritt helfen, wieder Anschluß an ein ,normales’ Leben zu finden. Dabei wird auf die subjektiven Bedürfnisse der Einzelnen Rücksicht genommen. Das heißt, je nach Fähigkeit und Interesse werden Angebote unterbreitet", erklärt Uwe Spacek, Vorsitzender von Stütze.

Qualitätskontrolle als Jobkiller in der Wohnungslosenversorgung
Unterdessen interessiert sich auch die Berliner Landesregierung für die Frage, wie wollen Wohnungslose wohnen. Bisher beantwortet der Berliner Senat diese Frage mit der Bereitstellung von städtischen Obdächern und der Förderung der von Freien Trägern betriebenen Übergangseinrichtungen und Betreuten Wohnprojekten sowie der Bezuschussung der im Rahmen der Kältehilfe in den Wintermonaten geöffneten kirchlichen Notübernachtungen und Wärmestuben. Im Rahmen eines Forschungsprojektes ermittelt die Technische Universität (TU) seit Ende September im Auftrag der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Frauen, was Obdachlose wirklich wollen. Unter dem Titel „Alternative Wohnformen für Wohnungslose Menschen" sollen ausgehend von einer Bestandsaufnahme über die unterschiedlichen Einrichtungsformen der Wohnungslosenhilfe die Bedürfnisse der Betroffenen abgefragt werden. „Zunächst wollen wir dokumentieren welche Wohn- und Unterbringungsformen überhaupt in der Stadt existieren, um auf dieser Basis den tatsächlichen Bedarf zu ermitteln", sagt Gerd Grenner, Leiter des Forschungsprojektes. So weit so gut. Doch bereits bei der Quantifizierung der Lebenslagen wohnungsloser Menschen sind erste Zweifel erlaubt. Denn während die großen Wohlfahrtsverbände von mindestens 20.000 Wohnungslosen ausgehen, leben in Berlin nach offiziellen Zahlen derzeit lediglich knapp 7.000 Menschen ohne eigenes Dach über den Kopf, davon 2.000 bis 4.000 ständig auf der Straße. „Eine genaue Ermittlung der tatsächlichen Zahlen ist ohne die seit Jahrzehnten von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geforderte bundesweite Wohnungsnotfallstatistik nicht möglich", bemängelt denn auch Heinrich Holtmannspätter, stellvertretender BAG-Vorsitzender.

In der Praxis decken die finanziellen Zuschüsse des CDU/SPD-Senats schon seit geraumer Zeit nicht mehr den eigentlichen Bedarf. Skeptisch beurteilen Kritiker die Ausrichtung des Forschungsunternehmens. Denn eigentlicher Hintergrund für das aus ABM-Mitteln finanzierte Projekt ist die Entwicklung von Beurteilungskriterien zur Qualitätskontrolle im Wohnungslosenbereich. Nach Einschätzung der AG Leben mit Obdachlosen, ein Zusammenschluß von 70 kirchlichen und sozialen Initiativen der Obdachlosenhilfe in Berlin, besteht die Gefahr, „daß der Senat die Forschungsergebnisse benutzt, um Zuwendungen für bestehende Wohnungslosenprojekte zu kürzen". Zwar versuchen die Macher der Studie die Vorbehalte mit der Zusage zu entkräften, daß die Ergebnisse der Studie vor der Veröffentlichung mit allen Beteiligten abgestimmt werden. Doch kommen die Ängste in den Wohnungslosenprojekten nicht von ungefähr. Laut Haushaltsentwurf der Senatssozialverwaltung werden die Zuwendungen für sämtliche soziale Einrichtungen in den kommenden drei Jahren um jeweils fünf Prozent gekürzt.

Christian Linde

Veröffentlicht im Heft 1/2001- Januar/Februar 2001 - der Zeitschrift Mieterschutz
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