Arbeitslosigkeit, steigende Mieten,
persönliche Lebenskrisen, familiäre Krisensituationen, ausbleibende
Unterhaltszahlungen sind auch in Ostdeutschland Ursachen für den
Wohnungsverlust, für Obdachlosigkeit. Das Bremer GISS-Institut
untersuchte Wohnungslosigkeit in Sachsen-Anhalt.
Obwohl das Recht
auf Wohnen in der DDR verfassungsrechtlich verankert war, blieben selbst
auf dem nichtkommerziellen Wohnungsmarkt des real existierenden
Sozialismus Menschen auf der Strecke. Doch öffentlich sichtbar wurde
das Problem kaum. Hinter den Mauern von Alters-, Pflege- oder
Behinderteneinrichtungen und in betrieblichen Unterkünften existierte
so eine „verdeckte" Wohnungslosigkeit. Mit dem Fall der Mauer hat
sich Wohnungsnot in Ostdeutschland zu einem kaum mehr übersehbaren
sozialen Problem entwickelt. Und seit Mitte der 90er Jahre eröffnete
sich für Politik, Verwaltung und freie Träger der Wohlfahrtspflege in
den fünf neuen Bundesländern ein völlig neues Arbeitsfeld: die
Vermeidung und Behebung von Wohnungslosigkeit. Hatten sich die
Hilfemaßnahmen nach der Vereinigung zunächst auf institutionell
untergebrachte Personen beschränkt, die nach der Entlassung aus
Einrichtungen und Anstalten oder nach der Schließung von
Arbeitnehmerwohnheimen aufgelöster DDR-Betriebe ohne mietvertraglich
abgesicherte Bleibe waren, erweiterte sich der Kreis der Betroffenen
inzwischen auf eine völlig neue Klientel: Mietschuldner. Dies geht aus
einer umfassenden Studie über Wohnungslosigkeit in Sachsen-
Anhalt hervor, die die Gesellschaft für
innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) in Bremen vorgelegt
hat. Grundlage der Forschungsergebnisse sind Befragungen und Erhebungen
aus dem Jahre 1996. Danach stammen von den 6.400 betroffenen Haushalten
mit 7.800 Personen fast dreiviertel der Wohnungslosen in Sachsen-Anhalt
aus Einpersonenhaushalten. Den größten Anteil stellen mit knapp 70
Prozent die alleinstehenden Männer. Erheblich nimmt der Anteil bei
Kindern im nichtvolljährigen Alter zu. Hauptursache für
Wohnungsverlust, so die Wissenschaftler, sind Mietrückstände. So
betrug die Zahl der von Räumungsklagen betroffenen Haushalte in dem
untersuchten Zeitraum landesweit etwa 2.900 mit insgesamt rund 5.500
Personen. Von den angesetzten 1.700 Räumungen mit 3.200 Personen wurden
tatsächlich 1.052 Haushalte mit 1.871 Betroffenen vollstreckt. Das
bedeutet eine Steigerung von rund 50 Prozent gegenüber 1995. Dabei
liegt die durchschnittliche Mietschuldenhöhe je Haushalt bei 3.210 DM.
Hinter den Mietschulden stehen laut Studie verschiedene Faktoren:
Arbeitslosigkeit, steigende Mieten, persönliche Lebenskrisen,
familiäre Krisensituationen oder ausbleibende Unterhaltszahlungen. Eine
wesentliche Ursache für Wohnungsverlust liegt nach Angaben von Experten
auch in den fehlenden Kenntnissen vieler ehemaliger DDR-Bürger über
die Rechtslage sowie die mangelnde Beratungsqualität in den Kommunen.
Mit den politischen Veränderungen in
Osteuropa und der veränderten politischen Großwetterlage kommen zwei
weitere Gruppen von Wohnungsnotfällen hinzu: Die Spätaussiedler mit
4.000 Haushalten und insgesamt 13.000 Menschen sowie die Flüchtlinge
mit 1.200 Haushalten und 2.000 Personen. Obwohl die Zahl der
Wohnungslosen in dem ostdeutschen Bundesland noch nicht den Stand
westdeutscher Bundesländer erreicht hat, stellt sie vor allem in
größeren Gemeinden ein wachsendes Problem dar, so die Autoren der
Studie. Im Unterschied zu den alten Bundesländern, in denen die Zahl
der Wohnungslosen stagniert, prognostizieren die Bremer Wissenschaftler
für Sachsen-Anhalt jedoch eine dramatische Entwicklung. So sei die Zahl
der Haushalte, denen aufgrund von Mietrückständen noch ein
Vollstreckungsverfahren drohe, um ein vielfaches höher als die bisher
vollzogenen. „Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zu der erst
am Anfang stehenden Armutsforschung in der Bundesrepublik",
kommentierte Gerlinde Kuppe, Sozialministerin in Sachsen-Anhalt, das
Papier. „Wenn wir nicht gegensteuern, drohen uns westdeutsche
Zustände", stimmt die SPD-Politikerin den von den Forschern
befürchteten Konsequenzen zu. Das Autorenduo kritisierte denn auch,
daß mit einer Ausrichtung an Familienhaushalten und einer
Vernachlässigung von Alleinstehenden deren hoher Anteil an den
Wohnungslosen mit verursacht werde. Sie forderten eine Konzentration der
Hilfemaßnahmen auf alle Betroffenen.