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Verteidigungsrede vor dem Landgericht Berlin,
gehalten am 28. Februar 1996


Von Joachim Ritzkowsky

 

1. 
Ich habe Manfred Lehmann vor fünf Jahren kennen gelernt. Er lebte damals zusammen mit einigen Obdachlosen am Halleschen Tor und schlief in der Frauentoilette am Landwehrkanal. Er war krank, alkoholkrank, und hatte offene, vereiterte Beine. Er war anfangs nicht in der Lage, in die Nostitzstraße zu gehen, wo die Gemeinde Heilig Kreuz eine Wärmestube für Obdachlose aufgemacht hatte. Einer der Obdachlosen, die mit Herrn Lehmann zusammen lebten – Benno –, hatte einen offenen Darmausgang, aber keine Tüten. Es war mir nicht möglich, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Ein anderer – Rudi – war Epileptiker. Er ist inzwischen auf der Straße gestorben.

Ich wusste, dass das zuständige Amt für Herrn Lehmann das Bezirksamt Treptow war, aber ich sah, dass Herr Lehmann nicht in der Lage war, dorthin zu kommen, um Sozialunterstützung und Krankenschein zu bekommen. Außerdem hatte er keinen Personalausweis.

Einem der Amtsleiter des Sozialamts Kreuzberg trug ich die Sache vor, mit der Bitte, dass sich das Bezirksamt Kreuzberg für Herrn Lehmann zuständig erklären möchte. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, Herr Lehmann wohne nicht am Halleschen Tor. Sein letzter Wohnsitz oder sein Geburtsdatum seien entscheidend für die Zuständigkeit. Ich bat darum, ernst zu nehmen, dass in Berlin nicht ausreichend Wohnungen vorhanden sind und leider Menschen sich Toiletten suchen müssen, um zu wohnen, und schlug vor, notfalls an der Frauentoilette eine Hausnummer anzubringen. Das wurde ebenfalls abgelehnt.

Daraufhin meldete ich Herrn Lehmann am 1.6.1993 im Gemeindehaus in der Nostitzstraße an, wo er sich regelmäßig Mittwoch in der Wärmestube aufhielt – und unregelmäßig Sonntag beim Gottesdienst und an anderen Tagen, wenn er mich besuchte. Herr Lehmann war nicht der einzige, den ich anmeldete. Wiederholt wurden mir Obdachlose vom Sozialamt geschickt, mit der Bitte, sie ebenfalls anzumelden. Auf diese Weise war es möglich, dass die Betroffenen Sozialunterstützung, Krankenschein, Notunterkunft und Steuerkarte erhielten.

Ich füge an dieser Stelle ein, dass ich später erfahren habe, dass die Jacobi-Kirchengemeinde in Göttingen seit zwölf Jahren bis zu 135 Obdachlose angemeldet hat. Der Oberstadtdirektor der Stadt Göttingen hat es mir auf Anfrage hin bestätigt.

Durch die Anmeldung im Gemeindehaus wurde es möglich, dass Herr Lehmann sich selber im nahen Rathaus Sozialunterstützung und Krankenschein abholen konnte.

Das Landeseinwohnermeldeamt meldete von sich aus im November 1993 Herrn Lehmann ab und sandte mir einen Bußgeldbescheid über 129,– DM. Ich legte Einspruch ein. Es konnte aber nicht zum Gerichtstermin kommen (geplant für den 20.10.1994), da Herr Lehmann nicht als Zeuge geladen werden konnte. Er hatte ja keine Adresse mehr. Darauf meldete ich Herrn Lehmann am 13.10.1994 ein zweites Mal im Gemeindehaus an, damit der Prozess gegen mich stattfinden konnte. Das Landeseinwohnermeldeamt meldete ihn sofort wieder ab und schickte mir einen zweiten Bußgeldbescheid zu, diesmal über 234,– DM.

Die Gerichtsverhandlung konnte mit Herrn Lehmann als geladenem Zeugen am 10.1. und 18.1.1995 stattfinden. Ich wurde wegen mittelbarer Falschbeurkundung zu einer Geldstrafe von 2.500,– DM auf ein Jahr Bewährung verurteilt.

2. 
Ich bin der Ansicht, dass das Urteil ein Unrecht festschreibt. Was ich gemacht habe, ist, einen Menschen, der illegal lebt, zu legalisieren. Ich habe einem Menschen, der faktisch bestimmter Rechte beraubt war, zu seinem Recht verholfen. Für mich ist Manfred Lehmann nicht der einzige. Ich weiß, dass bis heute – durch die Untätigkeit und Unfähigkeit des bisherigen Innensenators – Obdachlose faktisch vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Durch den von der AG „Leben mit Obdachlosen" hervorgerufenen Protest wurde zwar eine Möglichkeit geschaffen, dass auch Nichtwohnende wählen können, aber es ist lediglich eine Scheinlösung. Bei der Wahl am 6.10.1995 haben von 9.500 registrierten Obdachlosen nur 30 die umständliche Prozedur durchgestanden und gewählt. So ist es auch an anderen Stellen, bei Sozialhilfe, Krankenschein und Steuerkarte.

– Der Senat hat zwar formell eine Möglichkeit geschaffen, dass alle Obdachlose Sozialhilfe erhalten können. Aber faktisch funktioniert sie nicht. Er selber gibt zu, dass zurzeit mindestens 2.000–4.000 Menschen ohne Sozialhilfe leben.

– Obdachlose bekommen, wenn sie sich registrieren lassen, einen Krankenschein. Aber faktisch sind nach Schätzung der Verbände nicht nur 2.000–4.000, sondern 10.000 Menschen ohne ärztliche Versorgung.

– Ohne Wohnung ist es nach wie vor schwer, eine Steuerkarte zu bekommen. Einen der Obdachlosen, den ich anmeldete, damit er eine Steuerkarte bekommen und arbeiten konnte, meldete das Landeseinwohnermeldeamt von sich aus ab. Danach bekam er keine Steuerkarte mehr und verlor seine Arbeit.

Wenn jemand zu verurteilen ist, dann sind es die Verantwortlichen für diese Praxis: Menschen, die wohnungslos sind, aber arbeiten wollen, werden vom Landeseinwohnermeldeamt abgemeldet und in die Arbeitslosigkeit getrieben.

3. 
Als Letztes möchte ich etwas zum Begriff Wohnen sagen. Im Melderahmengesetz heißt es: Wohnung ist »jeder umschlossene Raum, der zum Wohnen oder Schlafen benutzt wird«.

Herr Lehmann wohnt und schläft an einem Tag in der Woche in unserer Gemeinde. Im Unterschied zu meinen Ausführungen bei der vorigen Verhandlung, möchte ich betonen, dass er bei uns auch schläft.

Menschen, die mit Obdachlosigkeit nicht vertraut sind, machen sich oftmals nicht klar, wann Obdachlose schlafen. Nachts auf den Toiletten versuchen es die Obdachlosen, sicherlich. Aber fragen Sie Herrn Lehmann, wie oft er nachts in der Toilette am Halleschen Tor gestört, überfallen, beraubt, mit Waffen bedroht und drangsaliert wurde. Außerdem werden die Toiletten von Fixern genutzt. An ruhigen Schlaf ist oft kaum zu denken. Obdachlose nennen das: »Wir schlafen mit einem Auge.« Das andere ist offen und passt auf. Daher schlafen solche Obdachlosen sofort am Tag, wenn sie irgendwo einen Platz finden, der Ruhe und Sicherheit bietet. Herr Lehmann erschien jeden Mittwoch schon am Vormittag und schlief in der Garderobe, bis wir die Wärmestube öffneten. Oft zog ich ihn, wie die übrigen Schläfer, in den angrenzenden Raum und deckte ihn zu.

Bleibt an Gegenargumenten also nur übrig, dass Herr Lehmann lediglich am Mittwoch in der Nostizstraße gelebt und geschlafen hat – und sonntags im Gottesdienst. Ansonsten hielt er sich am Halleschen Tor auf. Aber es gibt nicht viele Menschen, die sich irgendwo melden müssen, wo sie nicht täglich schlafen?

Haben nicht, um wählen zu können. viele Berliner in Westdeutschland gewohnt, als die Mauer noch stand? Haben nicht viele Berliner einen westdeutschen Ausweis gehabt, um als Westdeutsche in die DDR reisen zu können? Sie waren polizeilich gemeldet – und wohnten an ihrer Adresse weitaus weniger als Manfred Lehmann in unserem Gemeindehaus.

Ich bitte Sie darum, mich frei zu sprechen und damit den Innensenator zu nötigen, so wie in Göttingen, Anmeldungen Obdachloser bei Kirchengemeinden, anderen Institutionen und Privatleuten zuzulassen. Ich behaupte nicht, dass damit das Obdachlosenproblem gelöst werde. Es wird auf einem partiellen, aber konkreten Gebiet Erleichterung, Legalität und Recht geschaffen. Ich denke, man sollte nicht diejenigen Menschen verurteilen, die Menschen legalisieren, sondern sollte denen das Handwerk legen, die Menschen ausgrenzen und in die Illegalität treiben.

[Der Prozess endete mit Freispruch für den Angeklagten.]

aus: Joachim Ritzkowsky „Die Spinne auf der Haut" – Leben mit Obdachlosen. Alektor-Verlag. Berlin, 2001. S. 105–109. ISBN 2-88425-071-X
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