1.
Ich habe Manfred Lehmann vor fünf Jahren kennen gelernt. Er lebte
damals zusammen mit einigen Obdachlosen am Halleschen Tor und schlief in
der Frauentoilette am Landwehrkanal. Er war krank, alkoholkrank, und
hatte offene, vereiterte Beine. Er war anfangs nicht in der Lage, in die
Nostitzstraße zu gehen, wo die Gemeinde Heilig Kreuz eine Wärmestube
für Obdachlose aufgemacht hatte. Einer der Obdachlosen, die mit Herrn
Lehmann zusammen lebten – Benno –, hatte einen offenen Darmausgang,
aber keine Tüten. Es war mir nicht möglich, ihn in ein Krankenhaus zu
bringen. Ein anderer – Rudi – war Epileptiker. Er ist inzwischen auf
der Straße gestorben.
Ich wusste, dass das zuständige Amt für
Herrn Lehmann das Bezirksamt Treptow war, aber ich sah, dass Herr
Lehmann nicht in der Lage war, dorthin zu kommen, um
Sozialunterstützung und Krankenschein zu bekommen. Außerdem hatte er
keinen Personalausweis.
Einem der Amtsleiter des Sozialamts
Kreuzberg trug ich die Sache vor, mit der Bitte, dass sich das
Bezirksamt Kreuzberg für Herrn Lehmann zuständig erklären möchte.
Das wurde abgelehnt mit der Begründung, Herr Lehmann wohne nicht am
Halleschen Tor. Sein letzter Wohnsitz oder sein Geburtsdatum seien
entscheidend für die Zuständigkeit. Ich bat darum, ernst zu nehmen,
dass in Berlin nicht ausreichend Wohnungen vorhanden sind und leider
Menschen sich Toiletten suchen müssen, um zu wohnen, und schlug vor,
notfalls an der Frauentoilette eine Hausnummer anzubringen. Das wurde
ebenfalls abgelehnt.
Daraufhin meldete ich Herrn Lehmann am
1.6.1993 im Gemeindehaus in der Nostitzstraße an, wo er sich
regelmäßig Mittwoch in der Wärmestube aufhielt – und unregelmäßig
Sonntag beim Gottesdienst und an anderen Tagen, wenn er mich besuchte.
Herr Lehmann war nicht der einzige, den ich anmeldete. Wiederholt wurden
mir Obdachlose vom Sozialamt geschickt, mit der Bitte, sie ebenfalls
anzumelden. Auf diese Weise war es möglich, dass die Betroffenen
Sozialunterstützung, Krankenschein, Notunterkunft und Steuerkarte
erhielten.
Ich füge an dieser Stelle ein, dass ich
später erfahren habe, dass die Jacobi-Kirchengemeinde in Göttingen
seit zwölf Jahren bis zu 135 Obdachlose angemeldet hat. Der
Oberstadtdirektor der Stadt Göttingen hat es mir auf Anfrage hin
bestätigt.
Durch die Anmeldung im Gemeindehaus wurde
es möglich, dass Herr Lehmann sich selber im nahen Rathaus
Sozialunterstützung und Krankenschein abholen konnte.
Das Landeseinwohnermeldeamt meldete von
sich aus im November 1993 Herrn Lehmann ab und sandte mir einen
Bußgeldbescheid über 129,– DM. Ich legte Einspruch ein. Es konnte
aber nicht zum Gerichtstermin kommen (geplant für den 20.10.1994), da
Herr Lehmann nicht als Zeuge geladen werden konnte. Er hatte ja keine
Adresse mehr. Darauf meldete ich Herrn Lehmann am 13.10.1994 ein zweites
Mal im Gemeindehaus an, damit der Prozess gegen mich stattfinden konnte.
Das Landeseinwohnermeldeamt meldete ihn sofort wieder ab und schickte
mir einen zweiten Bußgeldbescheid zu, diesmal über 234,– DM.
Die Gerichtsverhandlung konnte mit Herrn
Lehmann als geladenem Zeugen am 10.1. und 18.1.1995 stattfinden. Ich
wurde wegen mittelbarer Falschbeurkundung zu einer Geldstrafe von 2.500,–
DM auf ein Jahr Bewährung verurteilt.
2.
Ich bin der Ansicht, dass das Urteil ein Unrecht festschreibt. Was ich
gemacht habe, ist, einen Menschen, der illegal lebt, zu legalisieren.
Ich habe einem Menschen, der faktisch bestimmter Rechte beraubt war, zu
seinem Recht verholfen. Für mich ist Manfred Lehmann nicht der einzige.
Ich weiß, dass bis heute – durch die Untätigkeit und Unfähigkeit
des bisherigen Innensenators – Obdachlose faktisch vom Wahlrecht
ausgeschlossen werden. Durch den von der AG „Leben mit
Obdachlosen" hervorgerufenen Protest wurde zwar eine Möglichkeit
geschaffen, dass auch Nichtwohnende wählen können, aber es ist
lediglich eine Scheinlösung. Bei der Wahl am 6.10.1995 haben von 9.500
registrierten Obdachlosen nur 30 die umständliche Prozedur
durchgestanden und gewählt. So ist es auch an anderen Stellen, bei
Sozialhilfe, Krankenschein und Steuerkarte.
– Der Senat hat zwar formell eine
Möglichkeit geschaffen, dass alle Obdachlose Sozialhilfe erhalten
können. Aber faktisch funktioniert sie nicht. Er selber gibt zu, dass
zurzeit mindestens 2.000–4.000 Menschen ohne Sozialhilfe leben.
– Obdachlose bekommen, wenn sie sich
registrieren lassen, einen Krankenschein. Aber faktisch sind nach
Schätzung der Verbände nicht nur 2.000–4.000, sondern 10.000
Menschen ohne ärztliche Versorgung.
– Ohne Wohnung ist es nach wie vor
schwer, eine Steuerkarte zu bekommen. Einen der Obdachlosen, den ich
anmeldete, damit er eine Steuerkarte bekommen und arbeiten konnte,
meldete das Landeseinwohnermeldeamt von sich aus ab. Danach bekam er
keine Steuerkarte mehr und verlor seine Arbeit.
Wenn jemand zu verurteilen ist, dann sind
es die Verantwortlichen für diese Praxis: Menschen, die wohnungslos
sind, aber arbeiten wollen, werden vom Landeseinwohnermeldeamt
abgemeldet und in die Arbeitslosigkeit getrieben.
3.
Als Letztes möchte ich etwas zum Begriff Wohnen sagen. Im
Melderahmengesetz heißt es: Wohnung ist »jeder umschlossene Raum, der
zum Wohnen oder Schlafen benutzt wird«.
Herr Lehmann wohnt und schläft an einem
Tag in der Woche in unserer Gemeinde. Im Unterschied zu meinen
Ausführungen bei der vorigen Verhandlung, möchte ich betonen, dass er
bei uns auch schläft.
Menschen, die mit Obdachlosigkeit nicht
vertraut sind, machen sich oftmals nicht klar, wann Obdachlose schlafen.
Nachts auf den Toiletten versuchen es die Obdachlosen, sicherlich. Aber
fragen Sie Herrn Lehmann, wie oft er nachts in der Toilette am
Halleschen Tor gestört, überfallen, beraubt, mit Waffen bedroht und
drangsaliert wurde. Außerdem werden die Toiletten von Fixern genutzt.
An ruhigen Schlaf ist oft kaum zu denken. Obdachlose nennen das: »Wir
schlafen mit einem Auge.« Das andere ist offen und passt auf. Daher
schlafen solche Obdachlosen sofort am Tag, wenn sie irgendwo einen Platz
finden, der Ruhe und Sicherheit bietet. Herr Lehmann erschien jeden
Mittwoch schon am Vormittag und schlief in der Garderobe, bis wir die
Wärmestube öffneten. Oft zog ich ihn, wie die übrigen Schläfer, in
den angrenzenden Raum und deckte ihn zu.
Bleibt an Gegenargumenten also nur
übrig, dass Herr Lehmann lediglich am Mittwoch in der Nostizstraße
gelebt und geschlafen hat – und sonntags im Gottesdienst. Ansonsten
hielt er sich am Halleschen Tor auf. Aber es gibt nicht viele Menschen,
die sich irgendwo melden müssen, wo sie nicht täglich schlafen?
Haben nicht, um wählen zu können. viele
Berliner in Westdeutschland gewohnt, als die Mauer noch stand? Haben
nicht viele Berliner einen westdeutschen Ausweis gehabt, um als
Westdeutsche in die DDR reisen zu können? Sie waren polizeilich
gemeldet – und wohnten an ihrer Adresse weitaus weniger als Manfred
Lehmann in unserem Gemeindehaus.
Ich bitte Sie darum, mich frei zu
sprechen und damit den Innensenator zu nötigen, so wie in Göttingen,
Anmeldungen Obdachloser bei Kirchengemeinden, anderen Institutionen und
Privatleuten zuzulassen. Ich behaupte nicht, dass damit das
Obdachlosenproblem gelöst werde. Es wird auf einem partiellen, aber
konkreten Gebiet Erleichterung, Legalität und Recht geschaffen. Ich
denke, man sollte nicht diejenigen Menschen verurteilen, die Menschen
legalisieren, sondern sollte denen das Handwerk legen, die Menschen
ausgrenzen und in die Illegalität treiben.