Das Leben auf der Straße
und in der Szene der Obdachlosigkeit wird gewöhnlich unter zwei
Gesichtspunkten dargestellt. Es werden die Probleme der Menschen
geschildert, die auf der Straße oder in Abrisshäusern, Wagenburgen
oder Notunterkünften leben; und es werden anschließend Überlegungen
angestellt, wie solchen Menschen zu helfen sei. Forderungen an Staat und
karitative Institutionen werden formuliert. Es wird Kritik am
allgemeinen Pensionsunwesen und der damit verbundenen Verschleuderung
von Steuermitteln erhoben, und es werden konkrete Vorschläge zur
Abhilfe dringender Notstände gemacht. Es gibt ferner außer der
Beschreibung der Situation und den Überlegungen zur Abhilfe von
Missständen noch einen dritten Gesichtspunkt, der seltener eine Rolle
spielt: Es wird nach den Ursachen von Wohnungslosigkeit und
Obdachlosigkeit gefragt. Meistens geschieht dies unter dem
Gesichtspunkt, dass Wohnen ein Menschenrecht sein muss und dass es
möglicherweise besser gelingt, der Obdachlosigkeit Einhalt zu bieten,
wenn man ihre Ursachen kennt.
Solche
Darstellungen der sozialen Situation und solche Berichte über die
Obdachlosenszene werden meistens von Außenstehenden gegeben, seien es
Sympathisanten oder Kritiker. Es wird dabei versucht, das Phänomen „Obdachlosenszene"
mit Begriffen der Tradition, der Universitäten und der bürgerlichen
Lebensvorstellung zu analysieren und zu begreifen. Kaum jemandem fällt
dabei auf, dass es bei diesem Vorgehen fast immer unterbleibt, die
Ausdrucksformen der Szene selber zu beachten. Die Symbole, Zeichen,
Äußerungen, Gepflogenheiten und Riten der Obdachlosen bleiben
unbedacht.
Auch ich bin Außenstehender, Bürger,
Beobachter, Sympathisant, Helfer, vom Elend auf der Straße
Beeindruckter. Auch ich fühle mich zum Handeln gedrängt. Aber ich
denke, es ist nötig, zugleich die »Schrift der Szene« zu lesen oder
zu entziffern, die ja gerade in Richtung der Bürger vorgezeigt wird. Es
ist nötig, die Äußerungen derer ernst zu nehmen, die aus dem normalen
bürgerlichen Dasein ausgegrenzt wurden oder sich bewusst ausgegrenzt
haben.
Ich möchte daher Phänomene beschreiben,
die mir bei dem Versuch, mit Obdachlosen zu leben, aufgefallen sind. Es
sind Phänomene wie Haartracht, Schmuck, Tätowierung, Kleidung, aber
auch Verhaltensweisen wie die Einbeziehung von Tieren. Ich bemühe mich
dabei um eine Beschreibung ohne den absichtsvollen Zweck der
Veränderung oder Verbesserung. Es werden die Dinge und Zeichen der
Szene ernst genommen, indem sie ruhig betrachtet werden – wie etwa
geschlechtliche Beziehungen von Menschen und Tieren. Nicht Entrüstung
oder Kritik über das Erkannte, nicht Empörung oder Verbot soll die
darauf folgende Reaktion sein, sondern ein Sich-Erinnern, ob es in
meiner Tradition Ähnliches gegeben hat. Die Phänomene werden nicht
moralisch qualifiziert oder abqualifiziert, sondern geschichtlich
eingeordnet.
Nach dem Rückblick in die Geschichte
zeigen sich die Phänomene regelmäßig in einem neuen Licht. Es kehrt
sich das Verhältnis von Ansprechen und Hören um. Nicht ich, der
Bürger mit meiner geordneten Lebensweise, habe den obdachlos Gewordenen
etwas zu sagen, sondern ich fange an zu hören, was mir aus ihrem
Bereich gesagt wird. Mag sein, dass sich daraus ein Gespräch ergibt.
Haar
Zu den auffälligsten Merkmalen der Menschen in der Szene gehört
ihre ungewöhnliche Haartracht. Die Haare werden entweder intensiv
bearbeitet (mindestens ebenso intensiv wie in einen bürgerlichen
Friseursalon) oder aber vernachlässigt. Über das Haar wird – wie zu
allen Zeiten – die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe
angezeigt.
Das Haar wird gespreizt, vergrößert,
toupiert, mit Zusätzen, Bändern, Schnüren, Ketten versehen, gestylt,
so dass es den Kopf wie einen Heiligenschein umgibt. Es erscheint wie
das imponierende Rad eines Pfaus. Offenbar soll es beeindrucken,
betören, einschüchtern, aus dem Träger oder der Trägerin mehr
machen, als sie sind – wie jede Dauerwelle auch.
Eine andere Form des Umgangs ist, dass
das Haar gerade nicht bearbeitet, sondern gelassen wird, wie es ist und
wie es wird. Oftmals ist es für Obdachlose schwer, an eine Dusche oder
Badewanne heranzukommen. Dann wird aus der Not ein Stil: Haar wird lang
getragen, in Flechten und Zöpfen, allmählich verfilzend. Es gibt sogar
einen Zustand, in dem jede eigene »Beanspruchung« und Bearbeitung des
Haars endet; es wird den Läusen überlassen.
Dagegen ist die Opferung des Haares
(kahler, rasierter Schädel) gewöhnlich mit der Opferung des autonomen
Willens und dem Eintritt in eine hierarchisch-autoritäre Gruppe
verbunden. Ein kahler Schädel, so meilenweit er von der
mittelalterlichen Tonsur (der Haartracht der Mönche und Kleriker)
entfernt ist, hat eines mit ihr gleich: Der Träger hat sich selbst ganz
einem Herrn untergeordnet. Der kahle Schädel zeigt es an.
Unbearbeitetes, lang gewachsenes oder zu Zöpfen geflochtenes Haar
dagegen erinnert mich an Menschen, die in lange zurückliegenden Zeiten
ebenfalls ihr Haar nicht schneiden oder binden lassen wollten. Es waren
Menschen voll von Kraft, Liebe, Energie und Kritik: Propheten, Druiden
»ungezähmte« Frauen des Mittelalters: „Ich will mein Haar nur
binden", sangen sie, „ich will es hangen lan, ich will noch
diesen Sommer lang fröhlich zum Tanze gan."
Auffällig ist, dass in der Szene die
Frisuren und ihre Farben häufig wechseln. Die bürgerliche Frau, die
sich eine Dauerwelle machen lässt, möchte, dass ihre Frisur möglichst
lange erhalten bleibt. Sie würde sie am liebsten ein für alle Mal
haben: dauernd dauernde Welle. Anders ist es in der Szene. Da wird
ständig variiert, und es entsteht ein besonderes, oft libidinöses
Verhältnis zu den jeweiligen Haarkünstlern, denen man sich anvertraut.
Derjenige, der einem Punk den Kopfputz und damit Ansehen bereitet –
also derjenige, der einen neuen »Kopfaufsatz« verpasst –, ähnelt
demjenigen, der einem Bürger einen neuen Hut und damit neues Ansehen
verleiht - also (ich nehme einmal als Beispiel den universitären
Bereich) ein Doktorvater, der dem Promovierten den Doktorhut verpasst.
Beide Mal geht es um das, was »auf dem Kopf« ist. Beide Male gibt es
Achtung und Ehre. Beide Male zeigt das, was auf dem Kopf ist, an, in
welchen Kreis der oder die Betreffende gehören. Doch im Unterschied zum
Doktorhut und zur Dauerwelle, die möglichst beständig auf einem Haupt
bleiben sollen, wird der Kopfputz des Punks oftmals variiert. Farbe und
Form wechseln.
Denkt man zurück an den Kopfputz von
Pharaonen und Königen, kann gesagt werden: Mit dem, was auf dem Kopf
ist, wird in mythischer und geschichtlicher Zeit die Beziehung zu einer
Gottheit ausgedrückt. Symbole voll Gottheiten sind die ältesten Hüte
und Frisuren.
Daher gilt: Ein Mensch, der eine
Dauerwelle oder einen Doktorhut trägt, zeigt an, dass er sich einer
beständigen, dauernden Macht oder Gottheit unterordnet namens: ewige
Werte, absolute Vernunft, bleibende Ordnung, freiheitlich demokratische
Grundordnung. Die Gottheit des Punks dagegen ist nicht ewig und
beständig, sondern wechselhaft. Er zeigt mit seiner Frisur an, dass er
nicht nach dem strebt, was ewig währt, sondern, dass er sich der
Gottheit der Variation und des Augenblicks zurechnet. Ihr Symbol trägt
er auf dem Kopf.
Wie erwähnt, gehören nicht alle
Obdachlosen zu dieser Sorte Haarkünstler. Viele bemühen sich durchaus
um einen bürgerlichen Haarschnitt. Sie möchten angepasst aussehen. Sie
haben das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu den Menschen, die ihr Haar
auf ein mittleres Maß bringen, es sozusagen halblang schneiden und
maßvoll frisieren lassen. Gerade nicht aufzufallen, ist ihr Wunsch; sie
möchten in die Welt zurückkehren, aus der sie ausgegrenzt wurden. Sie
tragen oftmals Kopfbedeckungen, die verbergen sollen, dass das Haar
hierbei ordentlich genug ist.
Vier Haartrachten – bunte Funkfrisuren,
glatt rasierte Schädel, angeschnittenes und verfilztes Haar, normaler
Haarschnitt: Jeder Kopf in der Szene spricht, ohne ein Wort zu sagen.
Man muss nur die Sprache der Dinge in die Sprache der Worte übersetzen.
Schmuck
Eins der interessantesten Phänomene der Szene ist dabei, wie reich
und oftmals auch wie schön insbesondere junge Obdachlose geschmückt
sind.
Neulich sah ich im Cafébauwagen des
Kinderzirkus Treptow eine junge Frau. Ihr Haar war grün. Um den Hals
trug sie ein handbreites Eisengitter und um die Fußgelenke Lederbänder
mit Eisennoppen. Auf die Arme hatte sie viele Armreifen geschoben. Alle
Finger waren beringt. An Hals und Brust hing das meiste Eisen: zwei
Mercedes-Sterne, ein Vorhängeschloss, ein Totenkopf, mehrere Ringe und
Metallscheiben und Steine – alles an eisernen Ketten. Auf Aufforderung
ihres Freundes streifte sie ihr T-Shirt von der Schulter und zog eine
weiße Ratte mit langem Schwanz aus der Achselhöhle. Das war der
Schlafplatz des Tieres.
Zunächst will ich auf den Schmuck
eingehen.
Schmuck steht am Beginn der menschlichen
Kultur. Unter den sechstausend Jahre alten Menhiren in der Bretagne
fanden sich Töpferscherben, Ohrringe und Perlen von Halsketten. Das
Tragen von Schmuck hat fast immer eine kulturelle und religiöse
Bedeutung, bis heute.
Verblüffend ist, wo der Schmuck
in der Szene getragen wird: Nicht nur an Hand Hals, Ohr und auf der
Brust, sondern auch in der Nase, Wange, Lippen, an Bauch und
Fußgelenken. Alle Finger einer Hand sind oft von Ringen besetzt.
Auffallend ist auch, dass gerne wertlose Metalle und Materialien
getragen werden, sowie Anti-Schmuck: Sicherheitsnadeln, Nägel,
verletzende Dinge. Solche Dinge am Körper wirken erschreckend auf
Menschen, die gewohnt sind, sich mit Gold und Silber zu schmücken, und
für die Schmuck keinerlei inhaltliche Bedeutung mehr hat, außer der
eines Beitrags zur Verzierung des Körpers. Wo der Sinn des Schmucks dem
Träger und der Trägerin nicht mehr bekannt ist, wird Schmuck als
bloßes Accessoire, als beiläufige Zutat, als »Modeschmuck«
angesehen. Aber ich bin überzeugt, kein Schmuck ist zufällig!
Schmuckgegenstände sind »Sprache«, die vor-sprachlich ist. Aller
Schmuck – auch der bürgerliche – hat Formen, Gestalten und Orte,
die auf magische, mythische oder religiöse Zusammenhänge hindeuten.
Ein Beispiel: Ohrringe sind ursprünglich
lebende Ringe, Schlangen, Abbilder einer Gottheit, die das Ohr besetzt,
beschwert, nach unten zieht und schließt. Der Mensch soll nur noch auf
die Gottheit hören, deren Symbol oder Abbild er am Ohr trägt. Das ist
im Mittelmeerraum in der Zeit bis 1200 v. Chr. vielfach die Schlange
oder auch der Mond. Das Ohr wird »schwer« gemacht, »verstockt«, wie
es in der Bibel heißt (Jesaja 6,10; Sacharja 7,11). Vor der Magie, vor
der Zauberei und ihren Sprüchen wird es verschlossen (Psalm 58,6).
In der darauf folgenden Phase (um 700 v.
Chr.) heißt es: Reißt ab eure Ohrringe (1. Mose 35,4; Jesaja 3,19)!
Gott öffnet das Ohr! „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst
das Ohr!" (Jesaja 50,4 EG 452, 1). Das Hören auf die
Schlangengottheit wird abgelöst durch das Hören auf das Wort – auf
das »Wort Gottes«, wie es dann später heißt. „Auf's Wort zu
hören", das lernen wir von Kindheit an.
Schmuck am Ohr, viele Ringe am Ohr,
Schmuck an den Lippen, am Hals, an der Nase, am Fuß, wo auch immer,
kann und muss sorgfältig in seinem historischen Zusammenhang gedeutet
werden. Jeder Ort und jedes Symbol hat seine eigene Bedeutung.
Auffallend in der Szene sind die vielen
Tiersymbole, die auf den Schmuckgegenständen erscheinen. Es sind
vielfach Tiere, die von der abendländischen Kultur verfemt, verachtet
und in den Untergrund verbannt wurden, darunter viele nachtlebende:
Spinne, Skorpion, Schlange, Drache, Ratte, Eule, Fledermaus.
Es sind ferner Symbole wie Eisennoppen,
die oft zu Hunderten auf Leder geschlagen als Armbänder getragen werden
und deren Herkunft auf den ersten Blick überhaupt nicht mehr zu
erkennen ist. Noppen sind Energieknoten, oft auf keltischen Kreuzen zu
sehen. Später wurden sie zu militärischen Kraft- und Ehrsymbolen. Sie
zeigen Macht und Potenz an – schon im Kloster von Ilona im 8.
Jahrhundert. Warum nicht auch auf den eisenbeschlagenen Lederjacken von
Jugendlichen?
Die eisernen Schmuckgegenstände lassen
oft ein Heraustreten von Energie nach Außen erkennen, oft aber auch das
Eindringen von Energie nach Innen. Sie wirken aggressiv und ingressiv.
Symbole der Selbstverletzung und Selbstverstümmelung wie zum Beispiel
Sicherheitsnadeln und Rasierklingen erinnern mich an christliche
Traditionen der Flagellaten, die auf den alten Darstellungen ebenfalls
die Werkzeuge ihrer Selbstmarterung zur Schau tragen.
»Schmuck« hat ursprünglich einen
doppelten Sinn: Er zeigt die Zugehörigkeit zu bestimmten umfassenden
Mächten an (Gottheiten, Clans, Systemen, Verbänden, Urreinen),
schreckt aber gleichzeitig auch ab, weist also andere Mächte ab und
sagt: „Diese Person ist schon zugehörig, sie hat schon einen Ring am
Finger! Sie hat schon ein Tier um den Hals (Nerz, Fuchs)! Sie hat schon
einen Hirsch (Hornknopf) am Jackett oder einen Vogel (per Feder) auf den
Kopf!"
Der ursprüngliche doppelte Sinn von
Schmuck ist in vier Szene sehr deutlich. Nieten, Noppen und
Nägelbeschläge auf den Lederjacken drücken zum einen ziemlich klar
die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen aus. Jeder
Ring zeigt eine Bindung an, der Ehering auf dem vierten Finger nicht
anders als die Ringe auf dem dritten oder welchem auch immer. Der
Szeneangehörige deutet an, dass er »unfrei« ist, im Sinne von »ich
bin zugehörig«. So, wie mancher Christenmensch mit einem Kreuz auf der
Brust mitteilt, dass er zum auferstandenen Christus gehört, so zeigt
der Szeneangehörige an, dass sein Körper besetzt ist, »beschwert«,
»in Beschlag genommen«.
Das »in Beschlag« kann durchaus
wörtlich genommen werden, denn zum anderen haben die
Schmuckgegenstände eine schützende, abschreckende, apotrophäische
Wirkung. Der Mensch erscheint nicht »offen«, sondern »bewehrt«,
nicht nackt und bloß, sondern in »Tracht«. Der Szeneangehörige
schützt sich mit Eisenschmuck. Er hat bürgerliche Ausdrucksformen
offenbar nur als Schlagworte kennen gelernt, als Sprüche und Slogans.
Er will mit solcher ihn verletzenden Sprache nichts zu tun haben, greift
deshalb auf magische oder mythische Symbole zurück. Er spricht durch
seinen Schmuck intensiv – aber es ist nicht mehr logische,
verständliche Rede.
Tätowierung
Der Sommer 1994 war sehr heiß. Da zeigten viele Menschen in der
Szene Tätowierungen auf der Haut, auf Schultern, Rücken, Armen, Hals,
Bauch, Brust, Oberschenkeln und Fesseln oder im Gesicht.
Zu allen Zeiten haben Menschen ihre
eigene Haut zur Schrift gemacht, zum Beispiel, wenn alles sonstige Reden
nichts mehr nützte oder wenn die Sprache intensiver sein sollte als der
Ausdruck der Zunge. Immer dann wurde die eigene Haut »zu Markte
getragen« und gezeigt. Schrift und Person werden bei der Tätowierung
identisch.
In der Überlieferung des Alten
Testamentes ist selbst Gott tätowiert. Er hat sich – wie es in Jesaja
49,16 heißt – auf die Hände die Umrisse der Stadt Jerusalem
eingeritzt. Er kann die Stadt und ihre Bewohner und Bewohnerinnen
unmöglich vergessen. An einer anderen Stelle heißt es: „Gehe mitten
durch die Stadt und zeichne ein Kreuz auf die Stirne derer, die seufzen
und stöhnen ..." (Ezechiel 9,4).
Betrachtet man aufmerksam die vielen
Tätowierungen heute, zeigt sich eine Differenz. Sie haben keineswegs
alle den gleichen Charakter. Es gibt eine Sorte von Tätowierungen, die
modisch schick erscheint und kunstvolle Muster asiatischer Blumen,
Masken und Drachen enthält (wobei der asiatische Drache ein Luftdrache
ist, der – wie bei uns, wenn man ihn an der Schnur steigen lässt –
positiv konnotiert ist). Auffälliger freilich sind die anderen
Tätowierungen, die bewusst satanische Symbole zeigen: Spinnen,
Schlangen, Totenköpfe, Fledermäuse (Batman), Skorpione, Erd- und
Feuerdrachen. Mehrfach habe ich Obdachlosen in der Wärmestube ihre
Tätowierungen erklärt. Dabei sah ich, dass zuweilen Symbole der
schwarzen Magie von Symbolen der weißen Magie überdeckt worden waren.
Die Haut war dann doppelt tief ein- und ausgebrannt.
Ich denke, dass man das Phänomen
»Schrift auf der Haut« zusammen sehen sollte mit »Schrift auf der
Kleidung«. Es ist heutzutage üblich, T-Shirts und Pullover zu tragen,
die eine Schrift oder ein Emblem auf Brust und Rücken zeigen. Ein Fan
trägt gerne das Bild oder den Namen seines Idols auf der Brust. Bürger
tun das ebenso wie in Form von Abzeichen, Orden, Bändern, Gemmen und
Broschen. Tätowierungen unterscheiden sich von solcher Schrift auf der
Kleidung durch ihren endgültigen, unauslöschbaren oder nur schwer
auslöschbaren Charakter.
Damit bin ich bei dem entscheidenden
Begriff: unauslöschbarer Charakter der Tätowierungen. Das Wort
»Charakter« kommt vom griechischen charasso, einritzen,
einprägen. »Einritzen« ist in der alten Welt das Wort für
»tätowieren«. Derjenige Mensch hat einen Charakter, der eine Prägung
erhalten hat, es kann die Einprägung eines göttlichen Symbols sein
oder die Einprägung einer erziehenden Institution (Bildung). Er darf
sich dann »Kind Gottes« oder auch »gebildeter Charakter« nennen. Er
hat den »charakter idelibilis«, wie man früher sagte. In der Kirche
wird der Täufling mit dem »Siegel« , das heißt dem Abdruck des
göttlichen Zeichens versehen. Charakterlos ist die Kuh, die keinen
Stempel hat und niemandem zugehört. Charakter hat also gerade der
»abgestempelte« Mensch! Das klingt in unseren Ohren seltsam
widersprüchlich, aber der Widerspruch löst sich leicht, wenn man
bedenkt, was uns Menschen alles verliehen wird: Orden, Ehrenzeichen,
Hüte, Ketten, Urkunden, Ämter. Durch diese Verleihung bekommen
Menschen Würde und Ansehen, bekommen einen »Amtscharakter«, werden
unter Umständen – wie Rudi Dutschke sagte – zu »Charaktermasken«
und können ihres »Amtes walten«. Sie führen ein eigenes Siegel,
können also selbst stempeln, abstempeln, göttliche oder staatliche
Zeichen aufdrücken.
Wer »gestempelt« ist, wer einen
Charakter bekommen hat, der gehört dazu. Alle weisen wir uns mit einem
Stück Papier aus, das den Stempel eines Tieres, eines Bären bzw. eines
Adlers trägt: unser Personalausweis. In der Geschäftswelt
charakterisieren Menschen sich ebenfalls mit einer abgestempelten Pappe,
der Mastercard, der Eurocard oder der Kontonummer. Entscheidend ist, wo
und wie der Stempel (der Charakter) getragen wird.
Die Nummer auf der bloßen Haut
kennzeichnet den Ausgegrenzten und den KZ-Häftling, die Nummer auf der
Kontokarte den zur Klasse der Besitzenden Gehörenden. Wer das
charakteristischen Zeichen einer satanistischen Macht auf der Haut
trägt, kennzeichnet sich selbst als Anhänger des Teufels . Wobei es
völlig verkehrt wäre, das Wort »Teufel« hier in einem
christlich-negativen Sinn zu verstehen. Satan und Teufel sind
gestürzte, untergegangene, verdrängte göttliche Mächte.
Die »lichten« Mächte des Staates und
der Kirche werden symbolisiert durch den »Adler« im Bundestag, die
»Eiche« auf unseren Münzen, das »Kreuz« auf der Kirche, »Sonne«
und »Stern« auf vielen Orden und anderes mehr. Fast jede Firma legt
sich ein Symbol zu.
Menschen, die erfahren mussten, dass für
sie diese »lichten« Mächte versagen, Menschen, die aufgegeben haben,
sich irgendwelche Hoffnung auf Staat und Kirche zu machen, wenden sich
den früheren, jetzt unterdrückten und verfemten Mächten der so
genannten Unterwelt zu. Sie zeigen ihre Verbundenheit mit ihnen auf der
Haut durch Tätowierung an.
Jedes der auf der Haut erscheinenden
Tiere und Symbole muss dabei für sich betrachtet und erklärt werden.
Mythen und Märchen geben Auskunft über den Bedeutungsunterschied
zwischen den einzelnen Tieren. Unsere heutige begriffliche Auffassung
gibt kaum noch etwas von der ursprünglichen Bedeutung wieder. Im
Begriff wird heute der Adler mit »Kraft«, der »Fuchs« mit
»Weisheit« und die schwarze Katze mit »Hexerei« gleichgestellt. Dass
der Adler ein Gott, der Fuchs ein Seelenführer (Magier) und die
schwarze Katze das Tier einer Göttin waren, spielt keine Rolle mehr.
Das Mythische ist abgestreift.
Von daher war es mein Interesse, genau
hinzusehen, welche Tiere in der Szene auftauchen. Dass ausgerechnet
eines der verfemtesten Tiere unserer Zivilisation – die schwarze
Spinne (samt Netz) - auf der Haut erscheint, sagt dem viel, der weiß,
dass die Spinne ursprünglich eine Netze spinnende Gottheit verkörpert.
Zunächst wurde sie noch angemessen gezeichnet (zum Beispiel im Frau
Holle-Märchen, wo die Goldmarie dem gesponnenen Faden folgt), später
aber negativ, das heißt, nur noch tötend (zum Beispiel im
Dornröschen-Märchen), um schließlich (in den Soldaten-Märchen) zur
»teuflischen Großmutter« zu werden und verfemt ins bürgerliche
Bewusstsein einzugehen. Auf der Haut erscheint meines Erachtens die
Spinne in ihrer ursprünglichen Bedeutung, als das Tier der Gottheit.
Was ist es für eine Gottheit? Die der Einheit von Lohen und Tod, von
Schöpfen (Spinnen) und Vernichten (die Spinne frisst den Faden), der
Einheit von oben und unten, der Einheit des Drunter und Drüber
(Spionen, Weben, Flechten).
Auch Tätowierungen zeigen den intensiven
Wunsch von Menschen nach Zugehörigkeit, Schutz und Geborgenheit durch
eine Macht an, die imstande ist, das Einzel-Ich in sich aufzunehmen und
zu bergen.
Kleidung
Über die Kleidung ließe sich viel sagen, da jedes einzelne
Kleidungsstück – Hut, Jacke, Hose, Gürtel, Rock, Schuh, – seine
eigene besondere Geschichte und Bedeutung hat. Hier nur einige
Beobachtungen.
Viele Menschen der Szene sind in Leder
gekleidet. Es ist eine Art Schutzhülle, Rüstung, ein harter,
beschlagener Panzer. Auch tragen Obdachlose häufig mehrere
Kleidungsstücke übereinander. Sogar an warmen Sommertagen sah ich
Menschen, die ich aus der Wärmestube kannte, in Militärmänteln mit
Lederjacken darunter herumgehen. Das hat nicht nur den Grund, dass
Wohnungslose alles, was sie haben, auch anziehen müssen, weil sie es
nirgends in einen Schrank hängen können.
Je mehr ein Mensch durch
gesellschaftliche Hüllen geschützt ist, desto mehr Haut kann er
zeigen. Eine Dame, die per Taxi in Begleitung eines Herrn zur Oper
fährt, genießt den Schutz ihres Pelzes, ihres Begleiters, des Autos,
des Theaterbaus, der im Theater befindlichen Türhüterinnen, der
Atmosphäre der Gobelins, der getäfelten Wände und des Lichts des
großen Lüsters im Saal. Sie tritt in die Oper wie in eine gefütterte
Schatulle. Eine solche Frau kann im dekolletierten Abendkleid mit
bloßen Schultern erscheinen. Sie hat außerhalb ihres Körpers viele
Hüllen. Nacktheit ist ursprünglich ein Privileg der Götter, die
unantastbar sind – und noch heute stehen sie nackend im Park von
Sanssouci.
Aber ein Mensch auf der Straße ist
sowohl von außen als von innen gefährdet und wird leicht angetastet.
Die äußere Gefährdung besteht in täglichen Angriffen, verbalen
Beleidigungen, Waffengebrauch, aber auch im Ausgeliefertsein an
Witterung, Verkehrslärm, Behörden, Gerichte und Polizeibeamte. Die
innere Gefährdung besteht darin, dass Obdachlose oftmals keinen
Menschen haben, der sie stärkt, erwartet, an sie denkt, sie sehen will,
sie liebt. Ihr Ich ist vielfach beschädigt und gekränkt. Ein Leben
ohne Wohnung und Beruf, ohne Scheckkarte und Beziehungen macht unsicher.
Die Kleidung der Obdachlosen hat die Funktion, die gefährdete Existenz
zu sichern.
Insbesondere wird »Tier« angezogen:
Leder, also Tierhaut. Das Tragen von Tier kommt freilich auch in der
bürgerlichen Welt vor. Besagte Opernbesucherin trägt unter Umständen
einen echten Nerz oder Fuchskragen. Die französischen Könige trugen
Hermelin. Löwen- und Tigerfelle schmücken so manche Wohnung. Und was
nicht alles erscheint auf den Köpfen von hoch gestellten Menschen:
Hörner, Federn, ganze Vögel (bei den Pharaonen), Pelz (an Kappen und
Hüten). Selbst Krokodilsleder gilt als fein! Gerade das Tragen von Tier
und von Tiersymbolen adelt den Träger und die Trägerin. Dennoch ist
ein Unterschied zu beachten. Die zuletzt genannte Tierkleidung der
adligen und bürgerlichen Mode erhebt den Menschen. Die Kleidung der
Szene will das Gegenteil, sie will den Träger und die Trägerin gerade
von der bürgerlichen Welt entfernen und die Zugehörigkeit zu denen
ausdrücken, die sich »am Boden befinden«, die am Boden sind, die auf
allen Vieren gehen. Deshalb werden die Tiere der Nacht eher angezogen
als die Tiere des Tages. Aus dem gleichen Grund ist es üblich,
zerrissene, altmodische, militärische und schwarze Sachen anzuziehen.
Die Kleidung wird nicht lange getragen,
sie ist schnell verbraucht. Das hat den einfachen Grund, dass Obdachlose
schwer an eine Waschmaschine herankommen und für Waschsalons kein Geld
haben. Oftmals werfen die Menschen verlauste Sachen weg, wenn sie neue
bekommen können. Trotzdem wird keineswegs alles angezogen! Obdachlose
sind wählerisch, was die »Klamotten« betrifft, denn »Kleider machen
Leute« – das gilt ebenso in der Szene wie in der Oper.
Tiere
Eins der auffälligsten Kennzeichen der Menschen auf der Straße ist
ihr Umgang mit Tieren. Wo man hinblickt, tauchen Tiere auf. In der Szene
gibt es insbesondere Beziehungen zu Hunden. Im Mythos ist der Hund das
Tier der Unterwelt, der Kerberos, ein dreiköpfiges Ungeheuer mit dem
Schwanz einer Schlange, grässlich anzusehen, die Unterwelt bewachend.
Wer in der »unteren Welt« lebt, hat keinen Löwen als Wächter,
sondern einen Höllenhund.
Es soll an dieser Stelle besonders betont
werden, dass viele Obdachlose nicht nur Tiere bei sich haben und sich
mit Tieren schmücken, sondern mit Tieren zusammenleben. Freilich sind
auch an diesem Punkt die Grenzen zur Umwelt fließend. Wie viele
bürgerlich lebende Menschen haben sie seelischen und körperlichen
Kontakt mit Tieren, reden mit ihnen und küssen sie! Für wie viele
einsame Menschen sind Tiere der einzige tägliche Umgang! Die der
abendländischen Kultur tief eingetrimmte Trennung von Tier und Mensch
wird immer mehr aufgehoben. Tiere werden zu Partnern, zu
Geschlechtspartnern, zu Lebensgefährten. Dieser Punkt rührt bei einem
in der christlichen Tradition stehenden Menschen an einen besonders
tabuisierten Bezirk. Ist doch gerade in der Bibel die Sodomie aufs
Strengste verboten. „Du sollst nicht mit irgend einem Tiere Umgang
haben und dich so an ihm verunreinigen! Und kein Weib soll sich vor ein
Tier hinstellen, um sich mit ihm zu begatten!" (3, Mose 18,23); „Wenn
einer mit einem Tier Umgang hat, soll er getötet werden. Und auch das
Tier sollt ihr umbringen ... Ihr Blut komme über sie" (3. Mose
20,15f). Diese Stellen – etwa 500 Jahre v. Chr. aufgeschrieben –
zeigen an, dass es Zeiten gegeben haben muss, in denen die Trennung von
Mensch und Tier keineswegs so scharf war wie heute, denn ansonsten
hätten solche drastischen Verbote nicht ausgesprochen werden müssen.
„Machet die Erde euch untertan",
heißt es 1. Mose 1,28, „und herrscht über ... alle Tiere, die auf
der Erde sich regen!". Wohin die radikale Trennung von Mensch und
Tier unsere Kultur geführt hat, wissen wir: zur Barbarei, zur
Ausrottung vieler Tierarten, zur willkürlichen Vermehrung so genannter
nützlicher Tiere, zu Hühnerfabrik und Rindfleischproduktion. Das
Wissen darum, dass »Seele« etwas ist, was Menschen und Tiere
Gleichermaßen haben, ist verloren gegangen.
Obdachlose gehen enge Beziehungen zu
Tieren ein: Manchmal herrische, oft aber freundschaftliche oder sogar
partnerschaftliche. Dies ist der Grund, warum eine Reihe von ihnen
staatliche Hilfsmaßnahmen ausschlägt. Ich kenne keine Pension, in die
Obdachlose Hunde mitnehmen dürfen. Also geht, wer von seinem Hund nicht
lassen will, in keine Pension. Wo soll der Obdachlose sein Tier lassen,
wenn er ins Krankenhaus muss? Also verzichtet er unter Umständen auf
die Einweisung in ein Krankenhaus, selbst wenn der Eiter an den Beinen
schon in die Schuhe läuft. Ich habe mehrere solcher Menschen kennen
gelernt und betreut.
Wenn ich es richtig verstehe, wird in der
Szene zurzeit ein anderes Verhältnis von Mensch und Tier ausprobiert
und eingeübt. Ich unterstelle nicht, dass es ein besseres ist, denn was
heißt besser? Soll man es menschlicher, also »vermenschlichter«
nennen? Soll man es als »tierisch« bezeichnen, weil wir Menschen
Verhaltensweisen von Tieren wieder erlernen?
Meine Konsequenz aus diesen Beobachtungen
war eine Erlaubnis: Zur Wärmestube dürfen Mensch und Tier kommen. Ich
kaufe auch Tiernahrung ein. Vielleicht sollten wir Mittel für
Tiernahrung und nicht nur für Menschennahrung bei der Senatsverwaltung
beantragen. Denn die Obdachlosen verzichten oftmals selbst bei Schnee
und Kälte eher auf einen Bettplatz als auf die Nähe zu ihrem Hund.