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Die Spinne auf der Haut
Phänomenologie der Obdachlosenszene


Von Joachim Ritzkowsky

Das Leben auf der Straße und in der Szene der Obdachlosigkeit wird gewöhnlich unter zwei Gesichtspunkten dargestellt. Es werden die Probleme der Menschen geschildert, die auf der Straße oder in Abrisshäusern, Wagenburgen oder Notunterkünften leben; und es werden anschließend Überlegungen angestellt, wie solchen Menschen zu helfen sei. Forderungen an Staat und karitative Institutionen werden formuliert. Es wird Kritik am allgemeinen Pensionsunwesen und der damit verbundenen Verschleuderung von Steuermitteln erhoben, und es werden konkrete Vorschläge zur Abhilfe dringender Notstände gemacht. Es gibt ferner außer der Beschreibung der Situation und den Überlegungen zur Abhilfe von Missständen noch einen dritten Gesichtspunkt, der seltener eine Rolle spielt: Es wird nach den Ursachen von Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit gefragt. Meistens geschieht dies unter dem Gesichtspunkt, dass Wohnen ein Menschenrecht sein muss und dass es möglicherweise besser gelingt, der Obdachlosigkeit Einhalt zu bieten, wenn man ihre Ursachen kennt.

Solche Darstellungen der sozialen Situation und solche Berichte über die Obdachlosenszene werden meistens von Außenstehenden gegeben, seien es Sympathisanten oder Kritiker. Es wird dabei versucht, das Phänomen „Obdachlosenszene" mit Begriffen der Tradition, der Universitäten und der bürgerlichen Lebensvorstellung zu analysieren und zu begreifen. Kaum jemandem fällt dabei auf, dass es bei diesem Vorgehen fast immer unterbleibt, die Ausdrucksformen der Szene selber zu beachten. Die Symbole, Zeichen, Äußerungen, Gepflogenheiten und Riten der Obdachlosen bleiben unbedacht.

Auch ich bin Außenstehender, Bürger, Beobachter, Sympathisant, Helfer, vom Elend auf der Straße Beeindruckter. Auch ich fühle mich zum Handeln gedrängt. Aber ich denke, es ist nötig, zugleich die »Schrift der Szene« zu lesen oder zu entziffern, die ja gerade in Richtung der Bürger vorgezeigt wird. Es ist nötig, die Äußerungen derer ernst zu nehmen, die aus dem normalen bürgerlichen Dasein ausgegrenzt wurden oder sich bewusst ausgegrenzt haben.

Ich möchte daher Phänomene beschreiben, die mir bei dem Versuch, mit Obdachlosen zu leben, aufgefallen sind. Es sind Phänomene wie Haartracht, Schmuck, Tätowierung, Kleidung, aber auch Verhaltensweisen wie die Einbeziehung von Tieren. Ich bemühe mich dabei um eine Beschreibung ohne den absichtsvollen Zweck der Veränderung oder Verbesserung. Es werden die Dinge und Zeichen der Szene ernst genommen, indem sie ruhig betrachtet werden – wie etwa geschlechtliche Beziehungen von Menschen und Tieren. Nicht Entrüstung oder Kritik über das Erkannte, nicht Empörung oder Verbot soll die darauf folgende Reaktion sein, sondern ein Sich-Erinnern, ob es in meiner Tradition Ähnliches gegeben hat. Die Phänomene werden nicht moralisch qualifiziert oder abqualifiziert, sondern geschichtlich eingeordnet.

Nach dem Rückblick in die Geschichte zeigen sich die Phänomene regelmäßig in einem neuen Licht. Es kehrt sich das Verhältnis von Ansprechen und Hören um. Nicht ich, der Bürger mit meiner geordneten Lebensweise, habe den obdachlos Gewordenen etwas zu sagen, sondern ich fange an zu hören, was mir aus ihrem Bereich gesagt wird. Mag sein, dass sich daraus ein Gespräch ergibt.

Haar
Zu den auffälligsten Merkmalen der Menschen in der Szene gehört ihre ungewöhnliche Haartracht. Die Haare werden entweder intensiv bearbeitet (mindestens ebenso intensiv wie in einen bürgerlichen Friseursalon) oder aber vernachlässigt. Über das Haar wird – wie zu allen Zeiten – die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe angezeigt.

Das Haar wird gespreizt, vergrößert, toupiert, mit Zusätzen, Bändern, Schnüren, Ketten versehen, gestylt, so dass es den Kopf wie einen Heiligenschein umgibt. Es erscheint wie das imponierende Rad eines Pfaus. Offenbar soll es beeindrucken, betören, einschüchtern, aus dem Träger oder der Trägerin mehr machen, als sie sind – wie jede Dauerwelle auch.

Eine andere Form des Umgangs ist, dass das Haar gerade nicht bearbeitet, sondern gelassen wird, wie es ist und wie es wird. Oftmals ist es für Obdachlose schwer, an eine Dusche oder Badewanne heranzukommen. Dann wird aus der Not ein Stil: Haar wird lang getragen, in Flechten und Zöpfen, allmählich verfilzend. Es gibt sogar einen Zustand, in dem jede eigene »Beanspruchung« und Bearbeitung des Haars endet; es wird den Läusen überlassen.

Dagegen ist die Opferung des Haares (kahler, rasierter Schädel) gewöhnlich mit der Opferung des autonomen Willens und dem Eintritt in eine hierarchisch-autoritäre Gruppe verbunden. Ein kahler Schädel, so meilenweit er von der mittelalterlichen Tonsur (der Haartracht der Mönche und Kleriker) entfernt ist, hat eines mit ihr gleich: Der Träger hat sich selbst ganz einem Herrn untergeordnet. Der kahle Schädel zeigt es an. Unbearbeitetes, lang gewachsenes oder zu Zöpfen geflochtenes Haar dagegen erinnert mich an Menschen, die in lange zurückliegenden Zeiten ebenfalls ihr Haar nicht schneiden oder binden lassen wollten. Es waren Menschen voll von Kraft, Liebe, Energie und Kritik: Propheten, Druiden »ungezähmte« Frauen des Mittelalters: „Ich will mein Haar nur binden", sangen sie, „ich will es hangen lan, ich will noch diesen Sommer lang fröhlich zum Tanze gan."

Auffällig ist, dass in der Szene die Frisuren und ihre Farben häufig wechseln. Die bürgerliche Frau, die sich eine Dauerwelle machen lässt, möchte, dass ihre Frisur möglichst lange erhalten bleibt. Sie würde sie am liebsten ein für alle Mal haben: dauernd dauernde Welle. Anders ist es in der Szene. Da wird ständig variiert, und es entsteht ein besonderes, oft libidinöses Verhältnis zu den jeweiligen Haarkünstlern, denen man sich anvertraut. Derjenige, der einem Punk den Kopfputz und damit Ansehen bereitet – also derjenige, der einen neuen »Kopfaufsatz« verpasst –, ähnelt demjenigen, der einem Bürger einen neuen Hut und damit neues Ansehen verleiht - also (ich nehme einmal als Beispiel den universitären Bereich) ein Doktorvater, der dem Promovierten den Doktorhut verpasst. Beide Mal geht es um das, was »auf dem Kopf« ist. Beide Male gibt es Achtung und Ehre. Beide Male zeigt das, was auf dem Kopf ist, an, in welchen Kreis der oder die Betreffende gehören. Doch im Unterschied zum Doktorhut und zur Dauerwelle, die möglichst beständig auf einem Haupt bleiben sollen, wird der Kopfputz des Punks oftmals variiert. Farbe und Form wechseln.

Denkt man zurück an den Kopfputz von Pharaonen und Königen, kann gesagt werden: Mit dem, was auf dem Kopf ist, wird in mythischer und geschichtlicher Zeit die Beziehung zu einer Gottheit ausgedrückt. Symbole voll Gottheiten sind die ältesten Hüte und Frisuren.

Daher gilt: Ein Mensch, der eine Dauerwelle oder einen Doktorhut trägt, zeigt an, dass er sich einer beständigen, dauernden Macht oder Gottheit unterordnet namens: ewige Werte, absolute Vernunft, bleibende Ordnung, freiheitlich demokratische Grundordnung. Die Gottheit des Punks dagegen ist nicht ewig und beständig, sondern wechselhaft. Er zeigt mit seiner Frisur an, dass er nicht nach dem strebt, was ewig währt, sondern, dass er sich der Gottheit der Variation und des Augenblicks zurechnet. Ihr Symbol trägt er auf dem Kopf.

Wie erwähnt, gehören nicht alle Obdachlosen zu dieser Sorte Haarkünstler. Viele bemühen sich durchaus um einen bürgerlichen Haarschnitt. Sie möchten angepasst aussehen. Sie haben das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu den Menschen, die ihr Haar auf ein mittleres Maß bringen, es sozusagen halblang schneiden und maßvoll frisieren lassen. Gerade nicht aufzufallen, ist ihr Wunsch; sie möchten in die Welt zurückkehren, aus der sie ausgegrenzt wurden. Sie tragen oftmals Kopfbedeckungen, die verbergen sollen, dass das Haar hierbei ordentlich genug ist.

Vier Haartrachten – bunte Funkfrisuren, glatt rasierte Schädel, angeschnittenes und verfilztes Haar, normaler Haarschnitt: Jeder Kopf in der Szene spricht, ohne ein Wort zu sagen. Man muss nur die Sprache der Dinge in die Sprache der Worte übersetzen.

Schmuck
Eins der interessantesten Phänomene der Szene ist dabei, wie reich und oftmals auch wie schön insbesondere junge Obdachlose geschmückt sind.

Neulich sah ich im Cafébauwagen des Kinderzirkus Treptow eine junge Frau. Ihr Haar war grün. Um den Hals trug sie ein handbreites Eisengitter und um die Fußgelenke Lederbänder mit Eisennoppen. Auf die Arme hatte sie viele Armreifen geschoben. Alle Finger waren beringt. An Hals und Brust hing das meiste Eisen: zwei Mercedes-Sterne, ein Vorhängeschloss, ein Totenkopf, mehrere Ringe und Metallscheiben und Steine – alles an eisernen Ketten. Auf Aufforderung ihres Freundes streifte sie ihr T-Shirt von der Schulter und zog eine weiße Ratte mit langem Schwanz aus der Achselhöhle. Das war der Schlafplatz des Tieres.

Zunächst will ich auf den Schmuck eingehen.

Schmuck steht am Beginn der menschlichen Kultur. Unter den sechstausend Jahre alten Menhiren in der Bretagne fanden sich Töpferscherben, Ohrringe und Perlen von Halsketten. Das Tragen von Schmuck hat fast immer eine kulturelle und religiöse Bedeutung, bis heute.

Verblüffend ist, wo der Schmuck in der Szene getragen wird: Nicht nur an Hand Hals, Ohr und auf der Brust, sondern auch in der Nase, Wange, Lippen, an Bauch und Fußgelenken. Alle Finger einer Hand sind oft von Ringen besetzt. Auffallend ist auch, dass gerne wertlose Metalle und Materialien getragen werden, sowie Anti-Schmuck: Sicherheitsnadeln, Nägel, verletzende Dinge. Solche Dinge am Körper wirken erschreckend auf Menschen, die gewohnt sind, sich mit Gold und Silber zu schmücken, und für die Schmuck keinerlei inhaltliche Bedeutung mehr hat, außer der eines Beitrags zur Verzierung des Körpers. Wo der Sinn des Schmucks dem Träger und der Trägerin nicht mehr bekannt ist, wird Schmuck als bloßes Accessoire, als beiläufige Zutat, als »Modeschmuck« angesehen. Aber ich bin überzeugt, kein Schmuck ist zufällig! Schmuckgegenstände sind »Sprache«, die vor-sprachlich ist. Aller Schmuck – auch der bürgerliche – hat Formen, Gestalten und Orte, die auf magische, mythische oder religiöse Zusammenhänge hindeuten.

Ein Beispiel: Ohrringe sind ursprünglich lebende Ringe, Schlangen, Abbilder einer Gottheit, die das Ohr besetzt, beschwert, nach unten zieht und schließt. Der Mensch soll nur noch auf die Gottheit hören, deren Symbol oder Abbild er am Ohr trägt. Das ist im Mittelmeerraum in der Zeit bis 1200 v. Chr. vielfach die Schlange oder auch der Mond. Das Ohr wird »schwer« gemacht, »verstockt«, wie es in der Bibel heißt (Jesaja 6,10; Sacharja 7,11). Vor der Magie, vor der Zauberei und ihren Sprüchen wird es verschlossen (Psalm 58,6).

In der darauf folgenden Phase (um 700 v. Chr.) heißt es: Reißt ab eure Ohrringe (1. Mose 35,4; Jesaja 3,19)! Gott öffnet das Ohr! „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr!" (Jesaja 50,4 EG 452, 1). Das Hören auf die Schlangengottheit wird abgelöst durch das Hören auf das Wort – auf das »Wort Gottes«, wie es dann später heißt. „Auf's Wort zu hören", das lernen wir von Kindheit an.

Schmuck am Ohr, viele Ringe am Ohr, Schmuck an den Lippen, am Hals, an der Nase, am Fuß, wo auch immer, kann und muss sorgfältig in seinem historischen Zusammenhang gedeutet werden. Jeder Ort und jedes Symbol hat seine eigene Bedeutung.

Auffallend in der Szene sind die vielen Tiersymbole, die auf den Schmuckgegenständen erscheinen. Es sind vielfach Tiere, die von der abendländischen Kultur verfemt, verachtet und in den Untergrund verbannt wurden, darunter viele nachtlebende: Spinne, Skorpion, Schlange, Drache, Ratte, Eule, Fledermaus.

Es sind ferner Symbole wie Eisennoppen, die oft zu Hunderten auf Leder geschlagen als Armbänder getragen werden und deren Herkunft auf den ersten Blick überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. Noppen sind Energieknoten, oft auf keltischen Kreuzen zu sehen. Später wurden sie zu militärischen Kraft- und Ehrsymbolen. Sie zeigen Macht und Potenz an – schon im Kloster von Ilona im 8. Jahrhundert. Warum nicht auch auf den eisenbeschlagenen Lederjacken von Jugendlichen?

Die eisernen Schmuckgegenstände lassen oft ein Heraustreten von Energie nach Außen erkennen, oft aber auch das Eindringen von Energie nach Innen. Sie wirken aggressiv und ingressiv. Symbole der Selbstverletzung und Selbstverstümmelung wie zum Beispiel Sicherheitsnadeln und Rasierklingen erinnern mich an christliche Traditionen der Flagellaten, die auf den alten Darstellungen ebenfalls die Werkzeuge ihrer Selbstmarterung zur Schau tragen.

»Schmuck« hat ursprünglich einen doppelten Sinn: Er zeigt die Zugehörigkeit zu bestimmten umfassenden Mächten an (Gottheiten, Clans, Systemen, Verbänden, Urreinen), schreckt aber gleichzeitig auch ab, weist also andere Mächte ab und sagt: „Diese Person ist schon zugehörig, sie hat schon einen Ring am Finger! Sie hat schon ein Tier um den Hals (Nerz, Fuchs)! Sie hat schon einen Hirsch (Hornknopf) am Jackett oder einen Vogel (per Feder) auf den Kopf!"

Der ursprüngliche doppelte Sinn von Schmuck ist in vier Szene sehr deutlich. Nieten, Noppen und Nägelbeschläge auf den Lederjacken drücken zum einen ziemlich klar die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen aus. Jeder Ring zeigt eine Bindung an, der Ehering auf dem vierten Finger nicht anders als die Ringe auf dem dritten oder welchem auch immer. Der Szeneangehörige deutet an, dass er »unfrei« ist, im Sinne von »ich bin zugehörig«. So, wie mancher Christenmensch mit einem Kreuz auf der Brust mitteilt, dass er zum auferstandenen Christus gehört, so zeigt der Szeneangehörige an, dass sein Körper besetzt ist, »beschwert«, »in Beschlag genommen«.

Das »in Beschlag« kann durchaus wörtlich genommen werden, denn zum anderen haben die Schmuckgegenstände eine schützende, abschreckende, apotrophäische Wirkung. Der Mensch erscheint nicht »offen«, sondern »bewehrt«, nicht nackt und bloß, sondern in »Tracht«. Der Szeneangehörige schützt sich mit Eisenschmuck. Er hat bürgerliche Ausdrucksformen offenbar nur als Schlagworte kennen gelernt, als Sprüche und Slogans. Er will mit solcher ihn verletzenden Sprache nichts zu tun haben, greift deshalb auf magische oder mythische Symbole zurück. Er spricht durch seinen Schmuck intensiv – aber es ist nicht mehr logische, verständliche Rede.

Tätowierung
Der Sommer 1994 war sehr heiß. Da zeigten viele Menschen in der Szene Tätowierungen auf der Haut, auf Schultern, Rücken, Armen, Hals, Bauch, Brust, Oberschenkeln und Fesseln oder im Gesicht.

Zu allen Zeiten haben Menschen ihre eigene Haut zur Schrift gemacht, zum Beispiel, wenn alles sonstige Reden nichts mehr nützte oder wenn die Sprache intensiver sein sollte als der Ausdruck der Zunge. Immer dann wurde die eigene Haut »zu Markte getragen« und gezeigt. Schrift und Person werden bei der Tätowierung identisch.

In der Überlieferung des Alten Testamentes ist selbst Gott tätowiert. Er hat sich – wie es in Jesaja 49,16 heißt – auf die Hände die Umrisse der Stadt Jerusalem eingeritzt. Er kann die Stadt und ihre Bewohner und Bewohnerinnen unmöglich vergessen. An einer anderen Stelle heißt es: „Gehe mitten durch die Stadt und zeichne ein Kreuz auf die Stirne derer, die seufzen und stöhnen ..."  (Ezechiel 9,4).

Betrachtet man aufmerksam die vielen Tätowierungen heute, zeigt sich eine Differenz. Sie haben keineswegs alle den gleichen Charakter. Es gibt eine Sorte von Tätowierungen, die modisch schick erscheint und kunstvolle Muster asiatischer Blumen, Masken und Drachen enthält (wobei der asiatische Drache ein Luftdrache ist, der – wie bei uns, wenn man ihn an der Schnur steigen lässt – positiv konnotiert ist). Auffälliger freilich sind die anderen Tätowierungen, die bewusst satanische Symbole zeigen: Spinnen, Schlangen, Totenköpfe, Fledermäuse (Batman), Skorpione, Erd- und Feuerdrachen. Mehrfach habe ich Obdachlosen in der Wärmestube ihre Tätowierungen erklärt. Dabei sah ich, dass zuweilen Symbole der schwarzen Magie von Symbolen der weißen Magie überdeckt worden waren. Die Haut war dann doppelt tief ein- und ausgebrannt.

Ich denke, dass man das Phänomen »Schrift auf der Haut« zusammen sehen sollte mit »Schrift auf der Kleidung«. Es ist heutzutage üblich, T-Shirts und Pullover zu tragen, die eine Schrift oder ein Emblem auf Brust und Rücken zeigen. Ein Fan trägt gerne das Bild oder den Namen seines Idols auf der Brust. Bürger tun das ebenso wie in Form von Abzeichen, Orden, Bändern, Gemmen und Broschen. Tätowierungen unterscheiden sich von solcher Schrift auf der Kleidung durch ihren endgültigen, unauslöschbaren oder nur schwer auslöschbaren Charakter.

Damit bin ich bei dem entscheidenden Begriff: unauslöschbarer Charakter der Tätowierungen. Das Wort »Charakter« kommt vom griechischen charasso, einritzen, einprägen. »Einritzen« ist in der alten Welt das Wort für »tätowieren«. Derjenige Mensch hat einen Charakter, der eine Prägung erhalten hat, es kann die Einprägung eines göttlichen Symbols sein oder die Einprägung einer erziehenden Institution (Bildung). Er darf sich dann »Kind Gottes« oder auch »gebildeter Charakter« nennen. Er hat den »charakter idelibilis«, wie man früher sagte. In der Kirche wird der Täufling mit dem »Siegel« , das heißt dem Abdruck des göttlichen Zeichens versehen. Charakterlos ist die Kuh, die keinen Stempel hat und niemandem zugehört. Charakter hat also gerade der »abgestempelte« Mensch! Das klingt in unseren Ohren seltsam widersprüchlich, aber der Widerspruch löst sich leicht, wenn man bedenkt, was uns Menschen alles verliehen wird: Orden, Ehrenzeichen, Hüte, Ketten, Urkunden, Ämter. Durch diese Verleihung bekommen Menschen Würde und Ansehen, bekommen einen »Amtscharakter«, werden unter Umständen – wie Rudi Dutschke sagte – zu »Charaktermasken« und können ihres »Amtes walten«. Sie führen ein eigenes Siegel, können also selbst stempeln, abstempeln, göttliche oder staatliche Zeichen aufdrücken.

Wer »gestempelt« ist, wer einen Charakter bekommen hat, der gehört dazu. Alle weisen wir uns mit einem Stück Papier aus, das den Stempel eines Tieres, eines Bären bzw. eines Adlers trägt: unser Personalausweis. In der Geschäftswelt charakterisieren Menschen sich ebenfalls mit einer abgestempelten Pappe, der Mastercard, der Eurocard oder der Kontonummer. Entscheidend ist, wo und wie der Stempel (der Charakter) getragen wird.

Die Nummer auf der bloßen Haut kennzeichnet den Ausgegrenzten und den KZ-Häftling, die Nummer auf der Kontokarte den zur Klasse der Besitzenden Gehörenden. Wer das charakteristischen Zeichen einer satanistischen Macht auf der Haut trägt, kennzeichnet sich selbst als Anhänger des Teufels . Wobei es völlig verkehrt wäre, das Wort »Teufel« hier in einem christlich-negativen Sinn zu verstehen. Satan und Teufel sind gestürzte, untergegangene, verdrängte göttliche Mächte.

Die »lichten« Mächte des Staates und der Kirche werden symbolisiert durch den »Adler« im Bundestag, die »Eiche« auf unseren Münzen, das »Kreuz« auf der Kirche, »Sonne« und »Stern« auf vielen Orden und anderes mehr. Fast jede Firma legt sich ein Symbol zu.

Menschen, die erfahren mussten, dass für sie diese »lichten« Mächte versagen, Menschen, die aufgegeben haben, sich irgendwelche Hoffnung auf Staat und Kirche zu machen, wenden sich den früheren, jetzt unterdrückten und verfemten Mächten der so genannten Unterwelt zu. Sie zeigen ihre Verbundenheit mit ihnen auf der Haut durch Tätowierung an.

Jedes der auf der Haut erscheinenden Tiere und Symbole muss dabei für sich betrachtet und erklärt werden. Mythen und Märchen geben Auskunft über den Bedeutungsunterschied zwischen den einzelnen Tieren. Unsere heutige begriffliche Auffassung gibt kaum noch etwas von der ursprünglichen Bedeutung wieder. Im Begriff wird heute der Adler mit »Kraft«, der »Fuchs« mit »Weisheit« und die schwarze Katze mit »Hexerei« gleichgestellt. Dass der Adler ein Gott, der Fuchs ein Seelenführer (Magier) und die schwarze Katze das Tier einer Göttin waren, spielt keine Rolle mehr. Das Mythische ist abgestreift.

Von daher war es mein Interesse, genau hinzusehen, welche Tiere in der Szene auftauchen. Dass ausgerechnet eines der verfemtesten Tiere unserer Zivilisation – die schwarze Spinne (samt Netz) - auf der Haut erscheint, sagt dem viel, der weiß, dass die Spinne ursprünglich eine Netze spinnende Gottheit verkörpert. Zunächst wurde sie noch angemessen gezeichnet (zum Beispiel im Frau Holle-Märchen, wo die Goldmarie dem gesponnenen Faden folgt), später aber negativ, das heißt, nur noch tötend (zum Beispiel im Dornröschen-Märchen), um schließlich (in den Soldaten-Märchen) zur »teuflischen Großmutter« zu werden und verfemt ins bürgerliche Bewusstsein einzugehen. Auf der Haut erscheint meines Erachtens die Spinne in ihrer ursprünglichen Bedeutung, als das Tier der Gottheit. Was ist es für eine Gottheit? Die der Einheit von Lohen und Tod, von Schöpfen (Spinnen) und Vernichten (die Spinne frisst den Faden), der Einheit von oben und unten, der Einheit des Drunter und Drüber (Spionen, Weben, Flechten).

Auch Tätowierungen zeigen den intensiven Wunsch von Menschen nach Zugehörigkeit, Schutz und Geborgenheit durch eine Macht an, die imstande ist, das Einzel-Ich in sich aufzunehmen und zu bergen.

Kleidung
Über die Kleidung ließe sich viel sagen, da jedes einzelne Kleidungsstück – Hut, Jacke, Hose, Gürtel, Rock, Schuh, – seine eigene besondere Geschichte und Bedeutung hat. Hier nur einige Beobachtungen.

Viele Menschen der Szene sind in Leder gekleidet. Es ist eine Art Schutzhülle, Rüstung, ein harter, beschlagener Panzer. Auch tragen Obdachlose häufig mehrere Kleidungsstücke übereinander. Sogar an warmen Sommertagen sah ich Menschen, die ich aus der Wärmestube kannte, in Militärmänteln mit Lederjacken darunter herumgehen. Das hat nicht nur den Grund, dass Wohnungslose alles, was sie haben, auch anziehen müssen, weil sie es nirgends in einen Schrank hängen können.

Je mehr ein Mensch durch gesellschaftliche Hüllen geschützt ist, desto mehr Haut kann er zeigen. Eine Dame, die per Taxi in Begleitung eines Herrn zur Oper fährt, genießt den Schutz ihres Pelzes, ihres Begleiters, des Autos, des Theaterbaus, der im Theater befindlichen Türhüterinnen, der Atmosphäre der Gobelins, der getäfelten Wände und des Lichts des großen Lüsters im Saal. Sie tritt in die Oper wie in eine gefütterte Schatulle. Eine solche Frau kann im dekolletierten Abendkleid mit bloßen Schultern erscheinen. Sie hat außerhalb ihres Körpers viele Hüllen. Nacktheit ist ursprünglich ein Privileg der Götter, die unantastbar sind – und noch heute stehen sie nackend im Park von Sanssouci.

Aber ein Mensch auf der Straße ist sowohl von außen als von innen gefährdet und wird leicht angetastet. Die äußere Gefährdung besteht in täglichen Angriffen, verbalen Beleidigungen, Waffengebrauch, aber auch im Ausgeliefertsein an Witterung, Verkehrslärm, Behörden, Gerichte und Polizeibeamte. Die innere Gefährdung besteht darin, dass Obdachlose oftmals keinen Menschen haben, der sie stärkt, erwartet, an sie denkt, sie sehen will, sie liebt. Ihr Ich ist vielfach beschädigt und gekränkt. Ein Leben ohne Wohnung und Beruf, ohne Scheckkarte und Beziehungen macht unsicher. Die Kleidung der Obdachlosen hat die Funktion, die gefährdete Existenz zu sichern.

Insbesondere wird »Tier« angezogen: Leder, also Tierhaut. Das Tragen von Tier kommt freilich auch in der bürgerlichen Welt vor. Besagte Opernbesucherin trägt unter Umständen einen echten Nerz oder Fuchskragen. Die französischen Könige trugen Hermelin. Löwen- und Tigerfelle schmücken so manche Wohnung. Und was nicht alles erscheint auf den Köpfen von hoch gestellten Menschen: Hörner, Federn, ganze Vögel (bei den Pharaonen), Pelz (an Kappen und Hüten). Selbst Krokodilsleder gilt als fein! Gerade das Tragen von Tier und von Tiersymbolen adelt den Träger und die Trägerin. Dennoch ist ein Unterschied zu beachten. Die zuletzt genannte Tierkleidung der adligen und bürgerlichen Mode erhebt den Menschen. Die Kleidung der Szene will das Gegenteil, sie will den Träger und die Trägerin gerade von der bürgerlichen Welt entfernen und die Zugehörigkeit zu denen ausdrücken, die sich »am Boden befinden«, die am Boden sind, die auf allen Vieren gehen. Deshalb werden die Tiere der Nacht eher angezogen als die Tiere des Tages. Aus dem gleichen Grund ist es üblich, zerrissene, altmodische, militärische und schwarze Sachen anzuziehen.

Die Kleidung wird nicht lange getragen, sie ist schnell verbraucht. Das hat den einfachen Grund, dass Obdachlose schwer an eine Waschmaschine herankommen und für Waschsalons kein Geld haben. Oftmals werfen die Menschen verlauste Sachen weg, wenn sie neue bekommen können. Trotzdem wird keineswegs alles angezogen! Obdachlose sind wählerisch, was die »Klamotten« betrifft, denn »Kleider machen Leute« – das gilt ebenso in der Szene wie in der Oper.

Tiere
Eins der auffälligsten Kennzeichen der Menschen auf der Straße ist ihr Umgang mit Tieren. Wo man hinblickt, tauchen Tiere auf. In der Szene gibt es insbesondere Beziehungen zu Hunden. Im Mythos ist der Hund das Tier der Unterwelt, der Kerberos, ein dreiköpfiges Ungeheuer mit dem Schwanz einer Schlange, grässlich anzusehen, die Unterwelt bewachend. Wer in der »unteren Welt« lebt, hat keinen Löwen als Wächter, sondern einen Höllenhund.

Es soll an dieser Stelle besonders betont werden, dass viele Obdachlose nicht nur Tiere bei sich haben und sich mit Tieren schmücken, sondern mit Tieren zusammenleben. Freilich sind auch an diesem Punkt die Grenzen zur Umwelt fließend. Wie viele bürgerlich lebende Menschen haben sie seelischen und körperlichen Kontakt mit Tieren, reden mit ihnen und küssen sie! Für wie viele einsame Menschen sind Tiere der einzige tägliche Umgang! Die der abendländischen Kultur tief eingetrimmte Trennung von Tier und Mensch wird immer mehr aufgehoben. Tiere werden zu Partnern, zu Geschlechtspartnern, zu Lebensgefährten. Dieser Punkt rührt bei einem in der christlichen Tradition stehenden Menschen an einen besonders tabuisierten Bezirk. Ist doch gerade in der Bibel die Sodomie aufs Strengste verboten. „Du sollst nicht mit irgend einem Tiere Umgang haben und dich so an ihm verunreinigen! Und kein Weib soll sich vor ein Tier hinstellen, um sich mit ihm zu begatten!" (3, Mose 18,23); „Wenn einer mit einem Tier Umgang hat, soll er getötet werden. Und auch das Tier sollt ihr umbringen ... Ihr Blut komme über sie" (3. Mose 20,15f). Diese Stellen – etwa 500 Jahre v. Chr. aufgeschrieben – zeigen an, dass es Zeiten gegeben haben muss, in denen die Trennung von Mensch und Tier keineswegs so scharf war wie heute, denn ansonsten hätten solche drastischen Verbote nicht ausgesprochen werden müssen.

„Machet die Erde euch untertan", heißt es 1. Mose 1,28, „und herrscht über ... alle Tiere, die auf der Erde sich regen!". Wohin die radikale Trennung von Mensch und Tier unsere Kultur geführt hat, wissen wir: zur Barbarei, zur Ausrottung vieler Tierarten, zur willkürlichen Vermehrung so genannter nützlicher Tiere, zu Hühnerfabrik und Rindfleischproduktion. Das Wissen darum, dass »Seele« etwas ist, was Menschen und Tiere Gleichermaßen haben, ist verloren gegangen.

Obdachlose gehen enge Beziehungen zu Tieren ein: Manchmal herrische, oft aber freundschaftliche oder sogar partnerschaftliche. Dies ist der Grund, warum eine Reihe von ihnen staatliche Hilfsmaßnahmen ausschlägt. Ich kenne keine Pension, in die Obdachlose Hunde mitnehmen dürfen. Also geht, wer von seinem Hund nicht lassen will, in keine Pension. Wo soll der Obdachlose sein Tier lassen, wenn er ins Krankenhaus muss? Also verzichtet er unter Umständen auf die Einweisung in ein Krankenhaus, selbst wenn der Eiter an den Beinen schon in die Schuhe läuft. Ich habe mehrere solcher Menschen kennen gelernt und betreut.

Wenn ich es richtig verstehe, wird in der Szene zurzeit ein anderes Verhältnis von Mensch und Tier ausprobiert und eingeübt. Ich unterstelle nicht, dass es ein besseres ist, denn was heißt besser? Soll man es menschlicher, also »vermenschlichter« nennen? Soll man es als »tierisch« bezeichnen, weil wir Menschen Verhaltensweisen von Tieren wieder erlernen?

Meine Konsequenz aus diesen Beobachtungen war eine Erlaubnis: Zur Wärmestube dürfen Mensch und Tier kommen. Ich kaufe auch Tiernahrung ein. Vielleicht sollten wir Mittel für Tiernahrung und nicht nur für Menschennahrung bei der Senatsverwaltung beantragen. Denn die Obdachlosen verzichten oftmals selbst bei Schnee und Kälte eher auf einen Bettplatz als auf die Nähe zu ihrem Hund.

 

aus: Joachim Ritzkowsky „Die Spinne auf der Haut". Leben mit Obdachlosen. Alektor Verlag Berlin, 2001. ISBN 3-88425071-X S.51–67. 
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