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Durch Haareschneiden zur Eigentumswohnung?

Mieter am Kreuzberger Wassertor sollen über Eigenleistungen Wohnungseigentümer werden

Berlin ist eine klassische Mieterstadt. Noch. Mit dem Verkauf von städtischen Wohnungsunternehmen, der umfangreichen Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und dem jüngst vorgestellten Konzept „Stadtaktie", nach dem Interessenten Anteile an Grund und Boden sowie Wohnraum erwerben können, präsentierte nun die „Aktion Wassertor" eine weitere Variante auf dem Weg zur Eigentümerstadt Berlin. 

Das unter der Ägide der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung rund um das Sanierungsgebiet des Wassertorplatzes im Bezirk Kreuzberg geplante Projekt will „Verslummung" und der fortschreitenden Gettoisierung in dem Gebiet entgegenwirken. Als Ergänzung zum Quartiersmanagement soll sich über Verbesserungen in der Wohnumfeldgestaltung eine eigene Quartiersidentität ausbilden. „Nehmen die 10 000 Mieter in dem Gebiet aktiv an der Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes teil, trägt dies wesentlich zur Entspannung im Zusammenleben der problematischen Mieterschaft bei", hofft Oliver Jungheim, Projektkoordinator. Am Ende soll unter der Überschrift „Neues Wohnen" auch in Abgrenzung zu Genossenschaftsmodellen eine kleinteilige Privatisierung der Häuser in Form eines Stiftungsmodells als Alternative zu Miet- und Eigentumswohnungen stehen.

Anteilsscheine durch Arbeitsleistung
„Vereine, Initiativen, aktive Gruppen und Einzelpersonen arbeiten oft isoliert voneinander, nebeneinander her. Ihre Qualitäten, Interessen, Aktivitäten miteinander zu vernetzen, kann erhebliche Synergieeffekte erzielen", heißt es in der Projektbeschreibung. In Zusammenarbeit mit den lokalen Gewerbetreibenden und den Hausverwaltungen sollen die Bewohner über eine Jobbörse und ein Tauschringsystem im Kiez Anteilsscheine an ihren Wohnungen erwerben können. Gedacht ist zum Beispiel an Mithilfe bei Hofbegrünungen oder eine Neugestaltung der Speisekarte der Eckkneipe, über die klassischen Nachbarschaftshilfen bis hin zur Pflege hilfsbedürftiger Nachbarn und deren Verrechnung mit der Pflegeversicherung. Die Arbeit liegt auf der Straße, man hofft dass genug Ideen zusammenkommen. Am Ende sollen die Mieter zu Eigentümern ihrer eigenen vier Wände werden.

Doch bis dahin ist der Weg weit. Der Stadtteil Kreuzberg ist unter den Armutsbezirken in den vergangenen Jahren im besonderen Maße von steigender Arbeitslosigkeit, einer zunehmenden Zahl von Sozialhilfeempfängern und zahlreichen Betriebsschließungen betroffen. Über 30 Prozent der Bewohner sind arbeitslos und fast jeder dritte Jugendliche im berufsfähigen Alter ist bereits von Sozialhilfe abhängig. Forciert wird die Verarmung des Stadtteils noch zusätzlich durch den Wegzug vieler Bewohner aus Angst vor der drohenden sozialen Deklassierung. Eines der Folgeprobleme ist die soziale Entmischung in dem Bezirk.

Handlungsbedarf woanders größer
„Bei uns steht fast täglich ein Möbelwagen vor der Tür. Viele wollen weg", zitiert die Sozialwissenschaftlerin Ingeborg Beer in einem Gutachten Mieter am Wassertorplatz. Bei den Häusern am Wassertorplatz, die sich zu fast hundert Prozent im Eigentum der städtischen Wohnungsunternehmen GSW und GEWOBAG befinden, handelt es sich ausschließlich um Neubauten. Die Gebäude sind zwar erst dreißig Jahre alt, doch besteht ein hoher Instandsetzungsbedarf. Wie hoch der Handlungsdruck ist, verdeutlicht die Tatsache, dass der in den sechziger Jahren entstandene Geschosswohnungsbau „ausdrücklich nur für 30 Jahre" erstellt worden ist. „Zwar wurden seit 1963 rund 11 Milliarden Mark in das Gebiet rund um den Wassertorplatz investiert, doch konnte keine grundlegend positive Entwicklung erreicht werden. Das Quartier ist krank", sagt Hermann Barges, Chef von der STADT + LANDSCHAFT, dem Entwicklungsträger des Projektes. Doch genau hier verläuft der Konflikt mit dem Bezirk.

„Wahlknüller aus dem Hut gezaubert"
Zwar sind sich beide Seiten in der Analyse weitestgehend einig. So ist für das Gebiet insbesondere durch das Auslaufen der Belegungsbindung zukünftig eine wohnungswirtschaftliche Betrachtung ebenso erforderlich, wie allgemeine Wohnumfeldverbesserungen. Umstritten ist allerdings der darüber hinaus gehende tatsächliche Bedarf. So weist der jüngst vorgelegte Sozialstrukturatlas die Situation in anderen Teilen Kreuzbergs als wesentlich dramatischer aus. Es gibt Wohnkomplexe, in denen der Ausländeranteil mit entsprechenden Sprachschwierigkeiten doppelt so hoch liegt, wie im Gebiet rund um den Wassertorplatz. „Hätte die Kompetenz beim Bezirk gelegen, würde die Gebietsausweisung für ein solches Projekt auf andere Gebiete fallen", kritisiert Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Bündnis 90/Die Grünen). Vordringlicher Bedarf besteht nach Ansicht des Bezirkes etwa für das Kottbusser Tor. Direkt vor dem Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ) hat sich durch die Vertreibungspolitik des Berliner Senates seit rund eineinhalb Jahren ein Teil der offenen Drogenszene etabliert.

Noch von der Senatsbauverwaltung unter Jürgen Klemann (CDU) im Sommer 1998 auf den Weg gebracht, dümpelte die „Aktion Wassertor" lange Zeit vor sich hin. Vom jetzigen Stadtentwicklungssentor Peter Strieder (SPD) wurde sie im vergangenen Jahr im vergangenen Herbst „als Wahlknüller aus dem Hut gezaubert", so Schulz, und gilt nun als Vorzeigeprojekt des medienorientierten Strieder."Solche Projekte leben nicht von Pressekonferenzen, sondern von der Substanz in der Alltagsarbeit. Strieder ist allerdings dafür bekannt, dass ihm der dafür notwendige Atem fehlt", sagt Schulz.

Wie realistisch die Perspektive ist, irgendwann einmal tatsächlich Eigentümer der eigenen vier Wände zu werden, steht allerdings in den Sternen. Denn weder die rechtlichen, noch die steuerlichen Fragen hinsichtlich der Eigentumsbildung mit Anteilsoptionen und Jobbörse sind geklärt. Das Finanzamt könnte dahinter etwa organisierte Schwarzarbeit wittern, und das Sozialamt könnte vermuten, dass Sozialhilfeempfänger geldwerte Leistungen beziehen und diese von den Zahlungen abziehen. Ein Mieter kommentierte seine Aussichten als zukünftiger Eigentümer so: „Wie lange muss ich dem Vorstandschef der GSW wohl die Haare schneiden, um so viele Anteilsscheine zu besitzen, dass mir meine Wohnung gehört?"

Christian Linde

Veröffentlicht in: Berliner Stadtzeitung Scheinschlag, Ausgabe 9/2000, S. 3
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