Berlins Mieter stehen mit knapp einer halben Milliarde
Mark bei ihren Vermietern in der Kreide. Arbeitslosigkeit ist die
Hauptursache für Überschuldung. Viele Mieter unterschätzen das Risiko
einer Zwangsräumung.
Immer öfter klingeln Gerichtsvollzieher an
Wohnungstüren, um die Zwangsräumungen zu vollstrecken. 2.742
Räumungstitel haben Berlins Vermieter im letzten Quartal des vorigen
Jahres vor Gericht erwirkt, 1.399 davon haben die Gerichtsvollzieher auch
vollstreckt.Das ist ein deutlicher ansteig gegenüber dem gleichen
Zeitraum 1996, als von nur 2.364 Räumungstiteln lediglich 1.229 vollzogen
wurden. Während die Zahlen im Westen stagnieren (637 statt 636), ist im
Ostteil der Stadt ein sprunghafter Anstieg (von 592 auf 763) zu
verzeichnen.
Ursache für die Räumungen sind fast ausschließlich
Mietschulden. Claus Wedemeier, Sprecher des Verbandes der
Berlin-Brandenburgischen Wohnungsunternehmen (BBU), beziffert die
Mietschulden bei den Verbandsmitgliedern allein in Berlin auf 212
Millionen Mark. Die Unternehmen, die dem BBU angehören, verwalten rund
die Hälfte der Wohnungen in der Region. Hartmann Vetter,
Hauptgeschäftsführer des Berliner Mietervereins, hält daher eine
Gesamtmietschuldensumme von einer Milliarde Mark für „realistisch".
Dass immer mehr Menschen in die Schuldenfalle tappen,
begründet Heribert Newrzella von der Schuldnerberatungsstelle Julateg mit
der steigenden Arbeitslosigkeit. „Die Primärverschuldungen, das heißt
Miet- und Energieschulden, sind nach unserer Erfahrung eigentlich nur
Seismografen für weitere Verschuldung." Ihnen gehen häufig laufende
Bankkredite und Ratenvereinbarungen voraus, die nach einem
Arbeitsplatzverlust nicht mehr zurückgezahlt werden können.
Die Zahl der überschuldeten Haushalte in Berlin beläuft
sich nach Schätzungen von Experten auf mindestens 150.000. Anstatt die
Scheu vor dem Weg in eine Beratungsstelle abzulegen, klagt Newrzella,
weichen die meisten Schuldner dem massiven Druck von Inkassofirmen. „Immer
häufiger werden Rechnungen vor allem an Versandhäuser aus der
Mietenkasse beglichen und nach einigen Monaten flattert die fristlose
Kündigung vom Vermieter ins Haus", beschreibt der Experte den
klassischen Weg in die Mühlen der Justiz. Am Ende von gerichtlichen
Auseinandersetzungen mit Hausbesitzern steht immer häufiger die Räumung.
Bei einem drohenden Wohnungsverlust bieten die
bezirklichen Sozialämter Hilfe an. Sie können nach dem
Bundessozialhilfegesetz einmalig die Mietschulden übernehmen, wenn
Mietpreis und Wohnungsgröße in einem angemessen Verhältnis zur
Haushaltsgröße stehen. 1996 zahlten sie dafür über 20 Millionen Mark,
bei weiter steigender Tendenz.
Wenn die Betroffenen nicht auf das Angebot des Sozialamts
reagieren, haben sie jedoch kaum noch eine Möglichkeit, das
Räumungsverfahren abzuwenden. „Die Leute machen einfach dicht",
weiß Regine Rochlitz, Leiterin der Sozialen Wohnhilfe in Schöneberg, „es
ist dann schwer, noch etwas zu retten". Zuerst würden Mahnungen
nicht beantwortet, dann die Post nicht mehr geöffnet und am Ende
praktisch der Kontakt zur Außenwelt abgebrochen. „Irgendwann fühlen
sich die Menschen völlig überfordert", denn häufig gehe der
drohende Wohnungsverlust einher mit anderen sozialen Problemen wie dem
Verlust des Arbeitsplatzes ausbleibenden Unterhaltszahlungen,
Beziehungskrisen, Krankheiten oder Alkoholismus.
Darüber hinaus beklagen Beratungsstellen in den
Ostbezirken die mangelnden Rechtskenntnisse ehemaliger DDR-Bürger.
Häufig unterschätzten sie das Risiko, ihre Wohnung tatsächlich zu
verlieren. Zwar droht den meisten Zwangsgeräumten nicht automatisch die
Obdachlosigkeit, doch der Weg in eigene vier Wände kann nach einem
Wohnungsverlust weit werden. Etwa jeder Dritte der 8950 offiziell
registrierten Obdachlosen in Berlin hat bereits seit mehr als zwei Jahren
kein eigenes Dach mehr über dem Kopf, schätzt der sozialpolitische
Sprecher der Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus, Michael Haberkorn.
Zwar können die Bezirke Familien zu einer neuen Wohnung
verhelfen, doch erweist sich die Wohnungssuche für allein stehende
Männer als schwierig, zumal die momentane Entspannung auf dem
Wohnungsmarkt das untere Preissegment nicht einschließt. „Regelmäßig
verweisen Wohnungsbaugesellschaften auf den Mangel an
Einzimmerwohnungen", sagt Haberkorn, „doch dahinter steht auch die
Haltung, sich kein zusätzliches Problem ins Haus holen zu wollen".
Ein Vertragsabschluss scheitert in vielen fällen auch
daran, dass das Sozialamt die vom Vermieter geforderte Einzelfallbetreuung
aus Kostengründen ablehnt. Ist es dann nicht möglich, bei Verwandten
unterzukommen, endet die Suche nach einer Wohnung immer häufiger in einem
gewerblichen Obdachlosenasyl. Dort sind die Betroffenen dann ihrem
Schicksal überlassen. Mangels sozialer Betreuung verlassen sie diese
Unterkunft nicht selten freiwillig - mit dem Risiko, endgültig ohne
Obdach zu sein.
Ohnehin sind Wohnungsverlust und Obdachlosigkeit am besten
vorbeugend zu bekämpfen, meint Regine Rochlitz von der Sozialen Wohnhilfe
Schöneberg. Aufklärung, Beratung und vor allem eine enge Zusammenarbeit
mit den Hauseigentümern seien dringend erforderlich. „Unsere guten
Kontakte zur Wohnungswirtschaft haben schon oft dazu geführt, dass wir in
Schöneberg Menschen vor der Unterbringung in einer Läusepension bewahren
konnten."
Christian Linde
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